Israel -Es wird gebaut,schnell und in aller Stille
von Yossi Sarid
Ha'aretz 19.01.2006
Ich musste mir die Augen reiben ? ich konnte es kaum glauben: der amtierende Ministerpräsident Ehud Olmert sagte zu den Verteidigungschefs nur richtige Dinge. Nun müssen wir abwarten, ob Olmert nicht nur redet sondern auch handelt. Wir hatten schon zu viele Redner.
Wenn ich bis jetzt noch nicht wahnsinnig geworden bin, dann ist es vielleicht schon zu spät dazu. Aber man kann wirklich verrückt werden, wenn die, die im Dunkeln gehen, plötzlich die Dunkelheit sehen ? nämlich die schreckliche Gefahr, die mit den Siedlern Israel auflauert. Wie oft erklärte ich diesen ?Hohlköpfen? des Verteidigungsestablishments den Ernst der Lage und sagte ihnen, wenn es kein Gesetz für die Siedler in den besetzten Gebieten gibt, dann gibt es auch kein Gesetz für die Gesetzesbrecher in Israel. Wie viele Federn habe ich beim Artikelschreiben zerbrochen, bis ich fast selbst daran zerbrochen bin und wie viele Reden habe ich gehalten, bis meine Stimme heiser war.
Und nun beginnen die, die sich der Sache entzogen haben, und die Drückeberger und die Gleichgültigen SOS-Botschaften zu empfangen und auszusenden. Ihre Antennen haben sie endlich auf die Piraten-Station von Hebron, Amona und die Dutzenden illegaler Siedlungen und Außenposten ausgerichtet. Aber selbst jene, die angeblich ?legal? gebaut wurden, sind auf Gesetzen von Sodom und Gomorrha ? auf Gesetzen des Diebstahls und der Usurpation errichtet. Im Augenblick wollen wir uns - zur Abwechslung und nur für den Anfang - mit den Außenposten zufrieden geben, deren Namen und Verantwortung schwarz auf weiß in Talia Sassons Bericht stehen.
Der Armee und der Polizei muss die Schuld gegeben werden; sie hatte die Augen zugedrückt. Dies ist eine falsche Schuldzuweisung; denn sie hat ihre Augen gar nicht zugedrückt ? sie zwinkerten. Die IDF war der ranghohe Kollaborateur der Siedler im allgemeinen und insbesondere der Hebronsiedler. Ich war mit den Chefs der IDF-Zivil-Verwaltung mehrfach wegen ihres schamlosen Spiels zusammengestoßen, und sie waren schrecklich beleidigt. Wie kann man die IDF einen Kollaborateur nennen?
Ranghohe Offiziere in der IDF, beim Shin Bet und der Polizei hörten nicht auf zu zwinkern und jetzt scheint es so, dass sie vom zu vielen Zwinkern und Blinzeln ihre Augen verstaucht haben. Sie drehen sich im Kreis herum und tänzeln, springen nach jedem Gegacker eines jüdischen Truthahns oder einer Henne in Hab-Achtstellung, weil dies im Geiste des Kommandeurs wäre. Hat sich der Wind jetzt wirklich gedreht oder ist es nur heiße Luft? Bläst der Wind, der von Jerusalem kommt, nur wie eine Abendbrise, wie eine Vorabendwahl-Brise oder ist es ein neuer Geist, der die vergiftete Atmosphäre reinigen will? Die Antwort weiß nur der Wind.
Der Verteidigungsminister Shaul Mofaz verlangt nun mehr Mittel, um die Gesetze durchzusetzen. Bis gestern waren die Gesetzesbrecher der Westbank das ?Salz der Erde?. Plötzlich wird das Salz in die Wunden von Mofaz und Dan Haluz gerieben. Guten Morgen, Ihr beiden! Ihr braucht nicht mehr Mittel. Ihr habt jede Menge Mittel und Wege. Was Ihr braucht, ist ein resoluter Wille. Bis heute habt Ihr mit dem Feuer gespielt und Euch geweigert, es zur rechten Zeit zu löschen. Und nun droht es, uns alle zu verbrennen.
Und der Staatsanwalt Menachem Mafuz, der bis heute keinen Finger gerührt hat, zeigt nun einen warnenden Finger. Mafuz ist auch bedürftig. Gebt ihm mehr Vollstrecker. Naiv war er der Meinung, dass es organisiertes Verbrechen nur innerhalb der grünen Linie gibt und versäumte dabei, die beispiellose Organisation des weit verzweigten Verbrechens auf der anderen Seite der Linie zu beachten.
Es ist schwierig, sie jetzt zu erkennen, all die unfähigen und faulen, die plötzlich so tun, als ob sie hart und energisch arbeiten würden. Tragen sie nun auch Masken auf ihren Gesichtern ?
von Ran Ha Cohen
antiwar.com / ZNet Deutschland 18.01.2006
Hebron ist wieder in den Schlagzeilen. Mehr als jeder andere Ort stellt diese geteilte Stadt den israelisch-palästinensischen Konflikt in einer Nussschale dar. 1967 von Israel besetzt, sahen die Palästinenser, wie das Herz ihrer Stadt von israelischen Siedlern eingenommen wurde, deren Gegenwart nach dem Völkerrecht dort illegal ist, aber von allen israelischen Regierungen unterstützt wurde. Um der 500 israelischen Siedler willen, die von 130 000 Palästinensern umgeben waren, teilte das Hebron-Abkommen 1997 die Stadt mit 80% des Gebietes unter palästinensische Verwaltung, während der Rest ? tatsächlich das Stadtzentrum in israelischer Hand blieb. Die 30 000 Palästinenser im Zentrum wurden täglich von den Siedlern schikaniert - unterstützt von der israelischen Armee, die mehr als 101 Hindernisse und 18 bemannte Kontrollpunkte rund um das von Israel kontrollierte Gebiet errichtet hatte. In einem klaren Prozess von ethnischer Säuberung leben nur noch ein paar Tausend Palästinenser in diesem Teil der Stadt (Meron Rapoport, Haaretz 17.11.05)
In der vergangenen Woche verkündete Israel seine Absicht, etwa 50 Siedler auszusiedeln, die illegal Hebrons Großhandelsmarkt übernommen hatten. Die Siedler von Hebron gingen auf die Straße, vandalierten und griffen meist unschuldige Araber an, aber auch die israelischen Soldaten und die Polizei. Eine isr. Tageszeitung nannte es die ?jüdische Intifada?. Wie gewöhnlich, gibt es drei Versionen über das, was in Hebron vor sich ging: die nationalistische Geschichte, formuliert in Ausdrücken wie Juden gegen die arabischen Einheimischen zusammen mit einem langen historischen Gedächtnis; die liberale Geschichte mit Ausdrücken des Staates, der Israelis, Palästinenser und den Rechtsregeln; und die der Realität, die irgendwo im Kleingedruckten verborgen liegt.
Die Nationalistische Geschichte
Der nationalistische Bericht ist in der langen Geschichte der Juden gegen die einheimische Bevölkerung verankert . Ihre Wurzeln liegen in der Zeit des Patriarchen Abraham ? aber diese mythische Vergangenheit wollen wir überspringen und gleich zur Gegenwart kommen, die1929 begann. Bis dahin ? so heißt es - lebten Juden und Araber friedlich neben einander in Hebron. Aber am 23. August 1929 endete die Idylle, als die Araber eine große Zahl Juden umbrachten (der Hintergrund und die genaue Zahl spielen hier keine Rolle) da sie zu all den anderen getöteten Juden an anderen Orten und zu andern Zeiten hinzugefügt wurden. Ein großer jüdisch-amerikanischer Historiker nannte dies die ?weinerliche Konzeption der jüdischen Geschichte?. (die Übers. fügt hinzu: 69 Juden wurden nicht von Hebroniten getötet, sondern von aufgehetzten Arabern von auswärts ? über 100 wurden von ihren arab. Nachbarn in Hebron geschützt und gerettet.)
Das in diesen Tagen umstrittene Gebiet ? Hebrons Großmarkt ? gehörte seit 1807 der jüdischen Gemeinde, so dass die Präsenz der selbsternannten Nachkommen, der Siedler, als ganz selbstverständlich genommen wird. Nur die herzlose, defätistische, unjüdische Regierung Israels versäumt es, dies einzusehen und will die Juden aus ihren eigenen Häusern verjagen und sie den Nachkommen der Mörder von 1929 geben.
Da die Politik des ?gewaltfreien Widerstands? der Siedler bei der Deportation aus dem Gazastreifen und einigen Westbanksiedlungen im letzten August nicht die gewünschten Früchte einbrachte, ist es jetzt an der Zeit, die Regierung und die israelische Öffentlichkeit abzuschrecken, in dem man ihnen zeigt, dass der Preis weiterer Vertreibung unerträglich hoch sein wird. Ungleich den Arabern haben Juden jedes fast denkbare Recht im Land Israel zu leben ? aber nicht das Recht, von andern Juden aus ihren Häusern vertrieben zu werden oder jüdisches Land an Araber zu geben.
Die liberale Geschichte
Die Liberalen haben ein kürzeres historisches Gedächtnis, aber eine legalistischere und humanistischere Orientierung. Es wird nicht geleugnet, dass das Areal um den Großmarkt den Juden gehörte. Als jedoch 1948 der Staat Israel gegründet wurde, besaßen die Juden nur einen kleinen Prozentsatz des Landes. Nachdem die meisten Palästinenser es verließen ( oder weggetrieben wurden, wie besser informierte Liberale sagen würden), wandte Israel legale, pseudo-legale und illegale Maßnahmen an, um fast allen palästinensischen Besitz zu übernehmen: Land, Häuser und Besitz. Sogar Palästinenser, die nur aus ihrem Haus flohen und innerhalb Israels blieben, wurden als ?gegenwärtig Abwesende? bezeichnet, damit ihnen der Besitz weggenommen werden konnte. Wenn Besitzrechte für den Markt in Hebron geltend gemacht werden, dann sollten sie universal geltend gemacht werden. Da Juden sich enormen arabischen Besitz angeeignet haben, würde das Prinzip über Besitz in Hebron den Weg zu arabischen Forderungen in Jerusalem, Jaffa, Haifa und tatsächlich überall in Israel ebenen.
Dazu kommt, dass die Besetzung des Großmarkts in Hebron durch Siedler sogar gegen das israelische Gesetz war. Die Regierung gibt zu und verkündet wiederholt die Absicht, die Hausbesetzer zu vertreiben. Der Verteidigungsminister Shaul Mofaz machte kürzlich eine Eingabe an den Obersten Gerichtshof, die Siedler zum 15. Februar aus dem Markt zu entfernen. Die Zeit ist gekommen, dass Sharons moderate Regierung ? jetzt unter seinem vertretenden Nachfolger Olmert glücklicherweise diese moralischen, rechtlichen und politischen Erwägungen versteht und endlich bereit ist, sie in die Tat umzusetzen. Die Hebron-Siedler sind auf jeden Fall Hooligans und die Regierung sollte dafür gelobt werden, dass sie ihnen endlich zeigt, wer in diesem Land das Sagen hat. Es wird höchste Zeit, dass der Großmarkt in Hebron den palästinensischen Kaufleuten wieder zurückgegeben wird ? es wäre ein kleiner, aber bedeutsamer, aber längst überfälliger Schritt Israels, zu den Grenzen von 1967 zurückzukehren.
Die Realität
Das sind tatsächlich zwei wunderbare Geschichten ? doch beide haben mit der Wirklichkeit wenig gemeinsam. Man erinnere sich, dass die Hausbesetzer den Großmarkt einfach übernehmen konnten, weil die palästinensischen Kaufleute vertrieben worden waren. Der Markt war 1994 von Israel nach dem Goldstein-Massaker, bei dem ein jüdischer Siedler 29 betende Muslime in der Abrahams-Moschee ermordet hatte, als vertrauens-zerstörende Maßnahme geschlossen worden. (apropos ?töten und in Besitz nehmen) Im Hebroner Abkommen von 1997 versprach Israel, den Markt an die Palästinenser zurückzugeben, damit er wieder geöffnet werden kann. Eine Mauer sollte ihn von den Siedlerwohnungen trennen. Doch Israel beachtet Verträge nur in äußersten Ausnahmefällen ? und Hebron ist keine solch seltene Ausnahme. Die nationalistische und die liberale Geschichte sind an einem sehr wichtigen Punkt falsch: beide glauben fälschlicherweise, dass Israel beabsichtigt, den Markt an die Palästinenser zurückzugeben. Israel denkt gar nicht daran. Alles, was Israel im Augenblick benötigt, ist eine gute Schau, die wie der liberale Traum aussieht ? besonders am Vorabend der Wahlen. Da ist es wünschenswert als resolute, moderate und sich an die Gesetze haltende Regierung dargestellt zu werden. Aber es wird der nationalistische, kolonialistische Traum sein, der verwirklicht werden wird. In einer gemeinsamen Bemühung der israelischen Regierung, Polizei, Armee und den Siedlern hatte Israel einen ziemlichen Erfolg bei der ethnischen Säuberung von palästinensischen Bewohnern von Hebrons Zentrum. Die Wiedereröffnung des Marktes könnte den Handel im Herzen der Stadt wieder beleben und Israels Errungenschaft ins Gegenteil verkehren. Wie könnte die Lösung aussehen? Aufmerksame Haaretz-Leser konnten es gerade wenige Tage, bevor das Problem in die Schlagzeilen kam, am 5.1.06 lesen: ?Das Verteidigungsministerium hat mit der Hebroner Stadtgemeinde den Pachtvertrag gekündigt, der palästinensischen Kaufleuten die Möglichkeit gab, im Großmarkt der Stadt zu arbeiten. Das heißt, dass die Kaufleute des Großmarktes nicht in der Lage sein werden, zu ihren Läden zurückzukehren, selbst wenn die IDF die Siedler als Hausbesetzer von dort entfernt.?
Was will Israel also tun? Der Oberste Gerichtshof soll sich nicht mehr mit der Sache befassen. Der Staat würde die Hausbesetzer nur durch ?autorisierte? Siedler ersetzen. Die Zivilverwaltung kommentierte schon: die Ankündigung wurde der Hebroner Stadtbehörde gegeben, um mit der Reaktion des Staates auf die Petition beim Obersten Gerichtshof mithalten zu können.? Tatsächlich ? so fügte Haaretz noch hinzu ?? ist nicht klar, ob der Pachtvertrag legal beendet sein kann, und es ist möglich, dass dies eine längere legale Debatte mit sich bringt, die Jahre dauern könnte? ? doch dies bedeutet nur Jahre, in denen die Siedler und die Armee den Rest der Palästinenser aus dem Zentrum von Hebron vertreiben können.
Und warum sind die Siedler auf die Straße gegangen? Außer dem allgemeineren Hintergrund übe die junge, radikalisierte Generation der Siedler, die sich nach dem Abzug aus dem Gazastreifen gedemütigt fühlte und nun eifrig dabei ist, zu vandalieren und zu terrorisieren, gibt Haaretz noch einen besonderen Grund an:
?Die Siedler Hebrons weisen die Möglichkeit, die Hausbesetzer aus dem Großmarkt zu evakuieren, nicht zurück, wenn andere jüdische Siedler, die die Läden und Gebäude legal mieten, ihren Platz einnehmen. Die Siedler fordern jedoch, dass die neuen Familien so schnell wie möglich einziehen, um sicher zu gehen, dass die Läden ständig bewohnt sind ,(...) aber (...) die Siedler haben noch keinen schriftlichen Kompromissvorschlag zu dieser Sache erhalten.?
So werden alle Akteure ihre faire Schau erhalten: der Oberste Gerichthof kann als Verteidiger der Justiz hingestellt, die Siedler können als fanatische Zeloten vorgestellt werden, die letzten Endes verlieren. Die Regierung kann als stark und für den Frieden porträtiert werden. Und während die ganze Welt salutiert, wird Israel die Palästinenser weiter enteignen.
Post scriptum
Der Erfolg der gegenwärtigen Schwindelschau scheint alle Erwartungen zu übertreffen. Die ganze Welt interpretiert den Austausch der einen Gruppe Siedler mit einer anderen als einen großen Schritt in Richtung Frieden. Daraus ergibt sich - wie Haaretz in der Hebräischausgabe vom 17.1. zitiert - dass ranghohe israelische Armeeoffiziere sagen, sie haben noch keine Instruktionen von der politischen Ebene erhalten, wann sie die Siedler vom Großmarkt in Hebron evakuieren sollen. Sie rechnen damit, dass dies nicht vor den palästinensischen Wahlen nächste Woche geschehen wird.? Wenn die Welt so leicht getäuscht werden kann, warum sollte Israel dann das Spiel mit den Tränen beenden?
Mitleid mit einem Waisenknaben
von Uri Avnery
uri-avnery.de / ZNet 21.01.2006
ZNet > Naher Osten > Friedensbewegung
Es war ein farbenprächtiger Tag in Bil?in. In vielen Farben flatterten politische Fahnen im frischen Wind, die leuchtenden Wahlposter und die bunten Graffiti an den Mauern taten ihr Übriges. Es war seit langer Zeit die größte Demonstration in dem belagerten Dorf. In dieser Woche war der Protest gegen die Mauer-Zaunanlage mit palästinensischer Wahlkampagne verquickt.
Glücklich marschierte ich bei sonnigem Winterwetter und hielt das Gush-Shalom-Emblem hoch, das die israelische und die palästinensische Flagge neben einander zeigt. Als wir uns der Linie der auf uns wartenden und bewaffneten Soldaten näherten, wurde mir auf einmal bewusst, dass ich von grünen Hamasflaggen umgeben war.
Gewöhnliche Israelis hätte es wohl umgehauen. Was, die mörderischen Terroristen marschierten in einer Linie mit israelischen Friedensaktivisten? Israelis marschierten, redeten und machten Spaß mit potentiellen Selbstmordattentätern ? Unmöglich!
Aber es war ganz normal und natürlich. Alle palästinensischen Parteien nahmen an der Demo teil ? zusammen mit israelischen und internationalen Aktivisten. Zusammen rannten sie vor den Tränengaswolken weg, brachen zusammen durch die Linie der Soldaten, wurden gemeinsam zusammengeschlagen. Die grünen Fahnen von Hamas, die gelben von Fatah, die roten der Demokratischen Front und das Blau-weiße der israelischen Flagge auf unserm Emblem harmonierten mit einander ? genau wie die Leute, die sie trugen.
Am Ende improvisierten viele von ihnen eine Art Protest-Konzert. Am eisernen Sicherheitsgitter entlang standen Israelis und Palästinenser und schlugen rhythmisch mit Steinen darauf und produzierten etwas wie ein afrikanisches Trommel-tam-tam, das noch meilenweit gehört werden konnte. Die orthodoxen Siedler im nahen Modiin-Illit müssen sich gefragt haben, was dies bedeuten möge.
Die Teilnahme aller palästinensischen Parteien war an sich schon ein bedeutendes Phänomen. Es war zweifellos durch die palästinensischen Wahlen ermutigt worden, die am kommenden Mittwoch stattfinden. Es war seltsam, dieselben Gesichter auf Postern entlang unseres Weges zu sehen und gleichzeitig als Gesichter von Lebenden unter uns in der Menge.
Es zeigte aber auch, welche Bedeutung diese Mauer-Zaun-Anlage in den Augen der Palästinenser hat.
Vor Jahren, als der Bau der Zaun-Mauer-Anlage gerade begonnen hatte, besuchte ich Yassir Arafat und schlug ihm einen gemeinsamen Kampf dagegen vor. Ich hatte den Eindruck, dass der Gedanke, die Mauer könne eine ernsthafte Gefahr sein, für ihn ganz neu war. Das palästinensische Establishment hatte noch nicht seine Bedeutung begriffen. Nun steht sie ganz oben auf der nationalen Agenda.
In der vergangenen Woche, am Vorabend zu den Wahlen, bei denen erwartet wird, Hamas werde einen bedeutenden Anteil der Stimmen erhalten, ist das Bild von Hamas-Aktivisten, die Seite an Seite mit israelischen Friedensaktivisten marschieren, sehr wichtig. Denn bald wird Hamas im palästinensischen Parlament vertreten sein und vielleicht auch in der Regierung.
Condoleezza Rice kritisierte wegen der Teilnahme von ?Terroristen? die Wahlen scharf und wiederholte so das Statement ihrer neuen israelischen Kollegin Zipi Livni, die erklärte, das seien keine ?demokratischen Wahlen? wegen der Teilnahme von Hamas.
Es stellt sich heraus, dass dies ein neuer Vorwand für unsere Regierung ist, nicht mit der gewählten palästinensischen Führung zu verhandeln. Die Vorwände wechseln häufig ? der Zweck bleibt derselbe.
Zunächst wurde behauptet, Israel würde nicht verhandeln, bevor der neue Präsident Mahmoud Abbas die ?terroristische Infrastruktur? nicht demontiert hätte. Das wäre tatsächlich nach der Road Map eine Verpflichtung gewesen ? aber es wäre auch die Verpflichtung von Ariel Sharon gewesen, gleichzeitig etwa Hundert Siedlungen, die er errichtet hatte, nachdem er zur Macht gekommen war, abzubauen, was er vollkommen ignorierte.
Dann kam die Behauptung, die Palästinensische Behörde sei in einem Zustand der Anarchie. Wie kann man mit einer Anarchie verhandeln?
Und nun kommt die Behauptung, man könne von Israel unmöglich erwarten, mit einer palästinensischen Führung zu verhandeln, die Hamas einschließt, eine Organisation, die so viele Selbstmordanschläge ausgeführt hat und mindestens offiziell die Existenz Israels nicht anerkennt.
Die Vorwände sind mannigfaltig, und es können ? wenn nötig - noch mehr erfunden werden. ( das erinnert mich an meinen verstorbenen Freund Natan Yellin-Mor, früherer Führer der ?Stern-Bande? - eine jüdische terroristische Untergundorganisation von vor 1948 - und späterer Friedensaktivist, der sagte: ?Ich wünschte, Gott würde mir so viele Versuchungen in den Weg legen, wie ich Vorwände hätte, ihnen nachzugeben.?)
Hamas? Präsenz in der nächsten palästinensischen Regierung ist kein Grund, Friedensverhandlungen zurückzuweisen. Ganz im Gegenteil. Es wäre ein zwingender Grund, endlich mit ihnen zu beginnen. Das würde heißen, dass wir mit dem ganzen palästinensischen Spektrum (außer der kleinen Jihad-Organisation) verhandeln würden. Falls Hamas sich der Regierung auf der Basis von Mahmoud Abbas? Friedenspolitik anschließen würde, dann ist sie offenkundig reif für Verhandlungen ? mit oder ohne Waffen ? auf der Basis eines Waffenstillstandes (Hudnah).
Als ich vor dreißig Jahren geheime Kontakte mit der PLO-Führung begann, war ich fast die einzige Person in Israel, die vorschlug, mit der Organisation zu verhandeln, die damals offiziell als ?terroristisch? bezeichnet wurde. Es dauerte noch 20 Jahre, bis die israelische Regierung meine Ansicht annahm. Nun beginnt dieses Spiel von vorne.
Warum weigern sich palästinensische Organisationen, ihre Waffen abzugeben? Täuschen wir uns nicht: für die meisten Palästinenser sind diese Waffen eine Art strategische Reserve. Wenn Verhandlungen mit Israel zu nichts führen, wird der bewaffnete Kampf wahrscheinlich wieder aufgenommen. Hat man so etwas nicht schon einmal gehört? (z.B. von Irland)
Selbst wenn Mahmoud Abbas bereit wäre, Hamas zu entwaffnen, könnte er es nicht. Seine schwache Position, verbunden mit der Schwäche seiner Fatah-Bewegung, machen solche Maßnahmen unmöglich.
Seine Schwäche, die auch in der Anarchie ihren Ausdruck findet, hat vor allem eine Ursache: die verschlagene Bemühung Sharons, seine Position zu untergraben. Ich habe darauf mehr als einmal hingewiesen: für Sharon stellte Abbas? Aufstieg eine ernsthafte Gefahr dar. Von Präsident Bush als ein Beispiel seines Erfolges hingestellt, das Demokratie und Frieden in den Nahen Osten bringe, bedrohte er die exklusive Beziehung zwischen den USA und Israel; womöglich bereitete dies auch den Weg für amerikanischen Druck auf Israel vor.
Um dies zu verhindern, verweigerte Sharon Abbas selbst die geringsten politischen Konzessionen, wie die Entlassung von Gefangenen ( Marwan Barghouti z.B.), eine Veränderung des Mauerverlaufs, das Einfrieren des Siedlungsbaus, den Rückzug aus dem Gazastreifen in Abstimmung mit Abbas etc. Diese Kampagne war erfolgreich. Die Autorität war so bedeutend geschwächt worden.
Nun nützen Sharons Nachfolger genau diese Schwäche als Vorwand aus, um ernsthafte Verhandlungen mit ihm und der nächsten palästinensischen Regierung zurückzuweisen. Mich erinnert das an die Geschichte von dem Burschen, der seine beiden Eltern umgebracht hatte und bei Gericht um Gnade flehte: ?Haben Sie doch Mitleid mit einem Waisenknaben!?.
von Amira Hass
Ha'aretz
Seit einem Monat - seit der 2. Woche im Dezember 2005 - trennt das israelische Militär (IDF) den nördlichen Teil der Westbank von den andern Teilen ab und verbietet den Bewohnern nach Ramallah und südlicher zu reisen.
Dieses Verbot gilt etwa 800 000 Menschen, Bewohnern der Regionen von Tulkarem, Nablus und Jenin. Bis zum 2. Januar galt das Verbot nur den Bewohnern von Jenin und Tulkarem. Seitdem wurde es auch auf die Bewohner des Nablusdistrikts ausgedehnt. Die IDF gab keine Order über die neuen Bestimmungen heraus, die die Leute erst an den festen und vorübergehenden Kontrollpunkten vorfanden, die sie in den vergangenen vier Wochen daran hinderten, südlich des Tapuach-Kontrollpunktes zu fahren. Sie wurden auch nicht davon unterrichtet, wie lange das Reiseverbot wirksam sein wird.
Die IDF hat auch die direkten Verkehrsverbindungen innerhalb der nördlichen Westbank abgeschnitten. Die Hauptverkehrsader ? Straße 60, die von der Siedlung Shavei Shomrom zur Straße nach Mevo Dotan und Homesh führt, ist für allen palästinensischen Verkehr seit Mitte August 2005 durch drei Stahltore geschlossen. Militärische Quellen sagten internationalen Organisationen, dass diese Straße für palästinensischen Verkehr geschlossen sein wird, bis ein zusätzlicher Sicherheitszaun rund um Shavei Shomrom fertig gestellt ist.
Zu verschiedenen Tageszeiten gibt es für das Passieren mehrerer Kontrollpunkte auch eine Beschränkung für bestimmte Alterstufen. Diese Einschränkungen gelten für Leute zwischen 16 und 30. Die IDF verbietet Bewohnern von Tulkarem Nablus über den westlichen Kontrollpunkt bei Beit Iba zu betreten. Sie dürfen nur über den nordöstlichen Kontrollpunkt nach Nablus ? über Tubas. Das bedeutet einen Umweg von vielen Kilometern auf Nebenstraßen. Ein IDF-Sprecher sagte zu Haaretz: ?Nach vielen Warnungen des Geheimdienstes und Versuchen von Terrororganisationen, im nördlichen Samaria Terrorangriffe gegen Israelis durchzuführen, wären ein paar Barrikaden errichtet worden, um den Verkehr von Bewohnern von Jenin, Tulkarem und Nablus, südlich der Nablus-Tulkarem-Linie zu verhindern. Die Entscheidung , den Verkehr zu verhindern, gründet sich auf einer vorübergehenden Einschätzung der Situation. Humanitären Fälle ist das Passieren jederzeit erlaubt.?
Die ?Gesellschaft für Bürgerrechte in Israel? (ACRI) stellte letzte Woche in einem Brief gegenüber GOC-Zentral-Kommando General Yair Naveh fest, dass man Bedenken habe, dass das Reiseverbot eine Strafmaßnahme gegen eine zivile Bevölkerung und darum als kollektive Strafe ungeeignet sei, die nach Internationalen Menschenrechten streng verboten sei. Der Brief des ACRI-Anwalts Limor Yehuda besagte, dass diese ?umfassenden Reiseverbote? die Westbank, ihre Bevölkerung und Gemeinden, die in allen Aspekten des Lebens mit einander verbunden sind, von einander trennt. Die Folge davon ist ein tödlicher Schlag gegen die ganze Bevölkerung, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verbindungen aufrecht zu erhalten.? Die IDF nennt dieses Fahrverbot der nördlichen Westbank in die anderen Teile der Westbank ?Differenzierung?. Es wäre im vergangenen Jahr mehrfach mit unterschiedlicher Dauer verhängt worden. Manchmal gilt die Trennung in beiden Richtungen.
Die ?Differenzierung? kann am wenigen Verkehr palästinensischer Wagen bemerkt werden und an den langen Warteschlangen von Autos und Personen am Hawara-Kontrollpunkt, südlich von Nablus und den fliegenden Kontrollpunkten, die an den Kreuzungen von Nebenstraßen aufgebaut werden, die von Palästinensern benützt werden. Doch wie von Aktivistinnen von Machsom Watch* berichtet wird, dauert die ?Differenzierung? dieses Mal länger und wird diesmal strenger durchgeführt.
Am Zaatara/ Tapuach-Kontrollpunkt, der in den letzten zwei Monaten zu einem gigantischen Terminal geworden ist und durch den der ganze palästinensische Verkehr von der nördlichen und westlichen Westbank geleitet wird, wird die Durchfahrt den Palästinensern verweigert, die schon alle Kontrollen wie Röntgen etc. zu Fuß oder mit dem Wagen passiert haben, wenn ihre Identitätskarten sie als Bewohner der nördlichen Westbank ausweisen. Die Dörfer entlang der Straße von Ariel nach Tapuach sind außerdem durch Zäune blockiert, man kann sie also auch nicht durch den Olivenhain verlassen.
Machsom Watch-Aktivistinnen haben zahlreiche Fälle dokumentiert, wo Studenten und andere Bewohner von der Tul Karem und Jenin-Region entweder daran gehindert wurden nach Nablus zu kommen oder gewarnt wurden, dass sie, wenn sie erst in Nablus seien, es ihnen nicht erlaubt werde, es zu verlassen.
(*Machsom Watch ist eine Menschenrechtsorganisation, bei der isr. Frauen an den Kontrollpunkten, zwischen Soldaten und wartenden Palästinensern zu vermitteln und Schlimmstes zu verhindern versuchen und dokumentieren, wie Palästinenser in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.)
von Uri Avnery
uri-avnery.de
Wie zwei sehr müde Ringkämpfer, die einander umklammert halten und nicht in der Lage sind, sich von einander zu trennen, so kleben die israelische und palästinensische Gesellschaft an einander.
Die palästinensischen Wahlen in dieser Woche finden im Schatten der israelischen Wahlen statt. Wer ist Ehud Olmert? Hat sich die Labor-Partei wirklich verändert? Wird die nächste israelische Regierung wirklich zum Verhandeln bereit sein? Welche Führung kann uns besser von der Besatzung befreien?
Die israelischen Wahlen ? in genau 2 Monaten ? werden im Schatten der palästinensischen Wahlen stattfinden. Was kann man nach dem Sieg der Hamas tun? Sollen wir bereit sein, mit einer palästinensischen Regierung zu verhandeln, die ? Gott bewahre! ? einen Hamas-Minister hat?
Palästinenser wissen eine Menge über die israelische Demokratie. Aber für Israelis ist eine palästinensische Demokratie eine unbekannte Größe.
Natürlich beweisen Wahlen an sich noch nicht, dass das System wirklich demokratisch ist. Es gibt alle möglichen Arten von Wahlen.
So gab es z.b. wahlen In der Sowjetunion. Einem Wähler, der ein Wahllokal betrat, wurde ein geschlossenes Kuvert gegeben. Ihm wurde gesagt, er solle dies in die Wahlurne stecken. ?Warum? Darf ich nicht wissen, wen ich wähle?? fragte er. ?Natürlich nicht,? erwiderte der Funktionär empört, ?in der Sowjet Union haben wir geheime Wahlen!?
Das Gegenteil davon spielte sich in einem ägyptischen Dorf ab, das ich vor Jahren an einem Wahltag besuchte. Der Ort war in einer fröhlichen Karnevalsstimmung. Im Wahllokal war alles offen. Was sollte denn auch versteckt werden? Freundliche Polizisten halfen alten Frauen, den richtigen Zettel ? für Mubarak ? in die Urne zu stecken. Es gab keinen anderen Kandidaten.
Aber keiner, der in den letzten Wochen die Westbank besuchte, konnte einen Moment daran zweifeln, dass sich hier die erste hausgemachte arabische Demokratie entwickelt ? die erste wirkliche Demokratie in der arabischen Welt. Es gab zwar ein paar Anzeichen von Anarchi: hier und dort bedrohten bewaffnete Gruppen einander. Aber das waren von den Medien stark übertriebene Randerscheinungen. Der Wahlkampf war real, die Parteien waren real, Politiker kämpften um Macht und Einfluss. Jede glatte Fläche in den Dörfern und Städten war mit bunten Wahlplakaten beklebt. Ohrenbetäubende Lautsprecher plärrten Slogans und Lieder. Und besonders wichtig: die Wähler waren mit einer echten Wahl zwischen alternativen und klaren Wahlprogramme konfrontiert ? etwas, was bei israelischen Wahlen keinesfalls sicher ist.
Es ist nicht einfach, Wahlen unter Besatzung abzuhalten, wenn der Besatzer offen gegen eine der großen Parteien kämpft, Kandidaten verhaftet oder sogar tötet, bedeutende Führer im Gefängnis festhält und überall Sperren errichtet. Und wie erwartet, wenn eine dumme Militärmaschine sich in politische Angelegenheiten einmischt, sind die Ergebnisse genau das Gegenteil von den beabsichtigten: die Erklärungen und Aktionen der israelischen Regierung gegen die Hamas haben ihr nur geholfen.
Ich sprach mit einem der Fatahführer über die Aktionen der israelischen Regierung gegen Hamas im besetzten Ost-Jerusalem, wo Wahlveranstaltungen verboten, Kandidaten verhaftet und Wahlplakate abgerissen wurden. Der Mann lachte: ?Was denken Sie? Dass Hamasanhänger Wahlveranstaltungen und Wahlposter braucht, um zu wissen, wen man wählen soll? All dies erhöht ja nur die Anziehungskraft der Hamas.? Die Ergebnisse zeigen, dass er recht hatte.
Wie kommt es, dass diese Palästinenser so nach einem demokratischen Leben verlangen?
In dieser Sache besteht ein großer Unterschied zwischen den Generationen ? ein Unterschied, der einer der offensichtlichsten Phänomene in der palästinensischen Gesellschaft ist.
Die alte Generation und besonders die Führer, die nach dem Oslo-Abkommen mit Arafat aus Tunis zurückgekommen waren, haben nie in einer demokratischen Gesellschaft gelebt. Arafat selbst hat sein Leben in verschiedenen arabischen Diktaturen verbracht: in Ägypten, Kuwait, Jordanien, Tunis, Libanon, wo jede Person in der einen oder anderen autoritären, sektiererischen Fraktion politisch sogar gefangen ist, sicher weit davon entfernt, eine wirkliche Demokratie zu sein. (Arafat hörte immer aufmerksam zu, wenn ich mich über die Möglichkeit ausließ, die offizielle Israelpolitik durch die Veränderung der öffentlichen Meinung zu verändern. Aber ich hatte nicht den Eindruck, er nehme mir das ab.) Das Modell, an das die älteren Leute denken, ist eine sehr begrenzte ?Demokratie? im jordanischen Stil.
Die mittlere Generation hat völlig andere Ideen. Zehntausende von ihnen sind längere Zeiten in Israels Gefängnissen gewesen. Dort lernten sie Hebräisch, hörten Radio Israel und schauten israelisches Fernsehen. Sie haben gesehen, wie israelische Demokratie funktioniert. Das wäre ein Modell, das sie gerne adoptieren würden (Mein Freund Sirhan Salameh, nun der Bürgermeister von A-Ram, der 12 Jahre im Gefängnis verbrachte, erzählte mir: ?Woran wir den größten Spaß hatten, waren die Szenen in der Knesset, wo jeder den Ministerpräsidenten anschreien konnte. Wir verglichen dies mit der Situation in arabischen Parlamenten. Wir entschieden uns, dass wir uns solch ein Parlament wünschten.?
Es muss ganz klar gesagt werden: diese Wahlen sind eine große Errungenschaft für die palästinensische Gesellschaft, eine Ehrentitel für ein Volk, das unter der Besatzung leidet, dessen unabhängiger Staat noch ein Traum ist. Jeder sollte vor ihr den Hut ziehen!
In Israel waren in dieser Woche die palästinensischen Wahlen im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Ehud Olmert, der seine Stellung als stellvertretender Ministerpräsident ausbauen möchte, um sich selbst als Führer für Sicherheit darzustellen, berief eine Konferenz des üblichen Haufens von Generälen und Shin Bet-Typen ein, die auf eine Situation immer nur durch die Zielvorrichtung ihrer Waffe schauen und durch ihren üblichen Mangel an politischer Weitsicht glänzen. Was sollte man tun, wenn ... Wie sich verhalten, wenn ...
Was kam dabei heraus? Israel wird nicht mit einer palästinensischen Regierung verhandeln, wenn sie Hamas einschließt. ?Man kann von uns nicht verlangen, mit einer Gruppe zu verhandeln, die nach der Zerstörung Israels zielt? etc. etc.
Das ist Unsinn mit Tomatensoße, wie man auf hebräisch sagt. Oder in diesem Fall Unsinn mit Blut.
Israel muss mit jeder palästinensischen Führung verhandeln, die vom palästinensischen Volk gewählt wurde. Wie bei jedem anderen Konflikt in der Geschichte wählt man nicht die Führung des Gegners - einmal weil der Gegner nicht damit einverstanden wäre und ? sodann genau so wichtig - ein Abkommen mit solch einer Führung nicht halten würde.
Je umfassender die Führung ist, um so besser. Wenn ein Abkommen erreicht wird, ist es entscheidend wichtig, dass alle Sektionen der palästinensischen Bevölkerung daran gebunden sind. Und wesentlich ist es, gerade die extremsten Faktionen mit einzuschließen. Hätte sich Hamas nicht dafür entschieden, an den Wahlen teilzunehmen, dann hätte es dazu gezwungen werden müssen.
Eine Gruppe, die bereit ist, mit Israel zu verhandeln, erkennt allein dadurch den Staat Israel an. Und wenn sie nicht bereit ist zu verhandeln, taucht dieses Problem gar nicht erst auf. Das ist logisch. Aber Generäle und Politiker sind keine Professoren der Logik - was wissen sie schon über Verhandlungen und Abkommen?
Auf der palästinensischen Seite: allein die Tatsache, dass Hamas an den Wahlen teilnimmt, die ihre Grundlage im Oslo-Abkommen haben, beweist, dass das palästinensische politische System sich in Richtung Frieden bewegt. Obwohl der Hamas-Sieg wie ein Rückschlag für den Frieden aussieht, kann das wirkliche Ergebnis ganz anders aussehen. Es kann die extreme Bewegung moderater machen und absichern, dass jedes Abkommen stabiler und dauerhafter sein wird.
Auf der israelischen Seite: die Spaltung des Likud, die Schaffung von Kadima, und der Führungswechsel in der Laborpartei zeigen, dass sich das israelische politische System in dieselbe Richtung bewegt. Die Bewegung - ob groß oder klein ? die Richtung ist eindeutig.
Nachdem beide Völker ihre neue Regierung aufgestellt haben, werden sie mit einander reden müssen.
Nach den Wahlen: die Zeitungsanzeige von Gush Shalom in Haaretz am 27.1.06
Und jetzt - auch mit Hamas!
Mit der ins palästinensische Parlament und vielleicht auch in die Regierung einziehenden Hamas gibt es eine historische Gelegenheit, diese Bewegung , ihre Führer, Mitglieder, Sympathisanten und Wähler in den Friedensprozess einzubinden. Jedes so erreichte Friedensabkommen wird so stärker und dauerhafter.
Jede palästinensische Gruppe, die mit der Regierung von Israel redet, erkennt auf diese Weise den Staat Israel praktisch an.
In der Vergangenheit galt dies für die PLO. In derselben Weise gilt dies jetzt für die Hamas.
Peter Schäfer 27.01.2006
Hamas gewinnt palästinensische Parlamentswahl mit absoluter Mehrheit
Dieses Wahlergebnis erwartete niemand, am wenigsten die Gewinner selbst. Alle Umfragen wiesen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden großen politischen Bewegungen Fatah und Hamas hin. Aber als Hanna Nasir, Leiter des unabhängigen Wahlkomitees, am Donnerstagabend das Ergebnis der Parlamentswahl verkündete, war die Überraschung groß. "Wechsel und Reform", die Wahlliste der islamistischen Hamas, erreichte aus dem Stand die absolute Mehrheit der Mandate. Die Hamas stellt jetzt 76 der insgesamt 132 Abgeordneten und verfügt damit über eine bequeme Mehrheit. Sie muss keine Koalition mit einer der vier kleineren Wahllisten eingehen, die die Zwei-Prozenthürde genommen haben, um sich gegen die ehemalige Regierungspartei Fatah (43 Mandate) durchzusetzen.
Präsident Mahmud Abbas (Fatah), der vor einem Jahr gewählt wurde, wird die Hamas jetzt mit der Regierungsbildung beauftragen. Das alte, von der Fatah dominierte Kabinett trat bereits vor der offiziellen Verkündung der Wahlergebnisse zurück. Der nächste palästinensische Ministerpräsident könnte damit Ismail Hanija heißen, Hamas-Kandidat mit Listenplatz 1. Präsident Abbas will im Amt bleiben und an den mit Israel geschlossenen Vereinbarungen festhalten.
Bereits am frühen Donnerstag bot die Hamas allen politischen Bewegungen die Bildung einer nationalen Einheitsregierung an. Die Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte in den politischen Entscheidungsprozess forderte sie bereits, als sie palästinensische Wahlen noch ablehnte. Die Fatah lehnt eine Zusammenarbeit mit der Hamas bislang aber noch ab. "Wenn wir keinen Koalitionspartner finden", erklärte Mahmud Zahar, Führungsmitglied der Hamas, "dann werden wir die Regierung alleine stellen. Wir haben die Fähigkeit dazu."
Die Fatah geht davon aus, dass die Hamas sich durch das Regierungsgeschäft mäßigen wird oder scheitert. "Ihr werdet sehen, dass man mit radikalen Parolen nicht weit kommt, wenn es um konkrete Bedürfnisse der Bevölkerung geht", so Muhammad Dahlan, der als einziges Fatah-Mitglied einen Sitz im Wahlkreis Khan Junis erhielt. Aber auch liberale Palästinenser stehen der Hamas hier Kompetenzen zu. "Viele Hamas-Mitglieder kommen aus dem Privatsektor, sind Geschäftsleute und damit Verwaltungsarbeit gewohnt", meint ein Ingenieur aus Ramallah. So macht der im Dezember gewählte Bürgermeister von Nablus, ebenfalls von der Hamas, bereits durch die Einführung eines modernen Buchhaltungssystems von sich reden. Damit möchte er der Bevölkerung zunächst zeigen, welchen Schaden die ehemalige Fatah-Verwaltung der Stadt zufügte.
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Die Hamas gewann überragend auf der Wahlkreisebene, erhielt aber auch auf nationaler Ebene die Mehrheit der Zweitstimmen. Die linke Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) erhält drei Mandate. Badil, ein Zusammenschluss dreier kleiner linker Parteien, hat nun zwei Sitze, ebenso wie Mustafa Bargutis "Unabhängiges Palästina" und der "Dritte Weg". Darüber hinaus sitzen vier Unabhängige im Parlament.
Fatah hat versagt
Die Wahl vom Mittwoch verlief weitgehend friedlich. Nach der Verkündung des Wahlergebnisses kam es allerdings zu Rangeleien zwischen Anhängern von Hamas und Fatah vor dem Parlamentsgebäude in Ramallah. Ein Mann wurde durch Steinwürfe verletzt. Insgesamt gibt die Fatah einen traumatisierten Eindruck ab. Die oft hochmütigen Töne gegenüber der Opposition sind Vergangenheit. "Für uns beginnt jetzt eine neue Phase", so Muhammad Hourani abends bei einer Pressekonferenz. Jetzt müsse man erst einmal Nabelschau betreiben, wie es zu dieser Niederlage kommen konnte.
Den Palästinensern sind die Gründe klar. Politologen bewerteten den Urnengang als Protestwahl gegen die Fatah, die in zehn Jahren ihrer Regierung eher durch die Begünstigung von Parteianhängern oder Familienmitgliedern brillierte, als durch Politik für alle. Ein Bewohner eines Flüchtlingslagers bei Ramallah erklärte, dass die Hamas seit ihrem Erfolg bei den Lokalwahlen im letzten Jahr Straßen geteert und das antiquierte Bewässerungssystem überholt habe. "Die Fatah hat für uns nie einen Finger gerührt." Auch in Ost-Jerusalem räumten die Islamisten ab. Die Fatah erhielt dort zwei Mandate nur, weil zwei ihrer Kandidaten unter die Christenquote fielen. Dasselbe gilt für Bethlehem.
Hamas pocht auf Selbstverteidigungsrecht
Die Hamas, die im Ausland vor allem durch ihre Selbstmordanschläge bekannt ist, steht in den palästinensischen Gebieten vor allem für kompetente Sozial- und Gesundheitsversorgung. Darüber hinaus hat sie im Gegensatz zur heterogenen, zerstrittenen Fatah ein einheitliches Auftreten.
Gewalt sei für sie nur das Mittel zum Ziel, sagte Mahmud Zahhar von der Hamas-Führung am Donnerstag. "Wir leben immer noch unter der israelischen Besatzung, die unser Land beschlagnahmt, Zivilisten tötet und Tausende ohne Anklage in Gefängnissen festhält. Wir haben das Recht, uns dagegen zu verteidigen. Wenn Israel die Besatzung stoppt, werden wir auch den Widerstand einstellen." Das klingt viel klarer als die Friedensrhetorik der Fatah-Führung, während deren Basis bewaffnete Chaos stiftet. Die Befürchtungen Israels gründen allerdings im Hamas-Grundsatzprogramm, in dem die Islamisten das gesamte historische Palästina für sich beanspruchen. Israel habe keinen Platz in der Region. Allerdings hat sich die Hamas in den letzten vier Jahren extrem gewandelt. Man kann sich die Gründung eines Staats in den 1967 besetzten Gebieten, also auf nur 22 Prozent des historischen Palästinas ebenso wie Verhandlungen mit Israel vorstellen.
Der Zugang zu den stark fragmentierten palästinensischen Gebieten wird von Israel kontrolliert. Der Aufbau einer von Israel unabhängigen Wirtschaft ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Deswegen hängen die Palästinenser und ihre Institutionen am Tropf internationaler Entwicklungshilfe. Die Europäische Union und vor allem die USA wollen allerdings nur mit einer friedlichen Hamas zusammenarbeiten, ansonsten die Zusammenarbeit einstellen. "Sie müssen das so sehen", kommentierte Mahmud Zahar. "Wir haben gute Beziehungen zur arabischen und islamischen Welt. Aber die Europäer reden auch mit uns. Eigentlich sind die USA die einzigen, die Israel vorbehaltlos unterstützen."
Frieden? Wie bitte?
In Palästina ist man darüber erstaunt, dass der Wahlsieg der Hamas im Ausland als "Rückschlag im Friedensprozess" gewertet wird. Auch Benjamin Netanjahu vom rechten israelischen Likud-Block bezeichnete das Ergebnis als "schlecht für den Frieden".
"Ich verstehe diese Einschätzung nicht", erklärt der Händler Bassam Sawalhi in Ramallah. "Die israelische Regierung verhandelt doch schon seit Jahren nicht mehr mit uns. Erst wollten sie Arafat nicht mehr. Und als Mahmud Abbas kam, sprachen sie mit ihm auch nur im Ausnahmefall."
Der ehemalige Fatah-Berater Michael Tarazi geht noch weiter. "Jetzt heißt es von Seiten der USA und Europas, dass man mit der Hamas nur verhandeln wolle, wenn diese der Gewalt abschwören", so Tarazi gegenüber Journalisten. Die Fatah sei aber in den Augen der Bevölkerung gerade gescheitert, weil friedliche Mittel nichts fruchteten. "So haben wir beispielsweise große Hoffnungen auf den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesetzt." Dieser erklärte die israelischen Sperranlagen aus Mauern und Zäunen innerhalb des Westjordanlands für illegal. "Dieses Urteil wurde aber nicht umgesetzt. Israel baut ungehindert weiter." Das hohe Wahlergebnis der Hamas sei das Resultat der westlichen Untätigkeit gegenüber Israel.
Die Autonomiebehörde wurde 1994 als Ergebnis des israelisch-palästinensischen Friedensvertrags gegründet. Israel nutzte die Friedenszeit bis zum Beginn der Intifada im September 2000 zur Verdopplung der Zahl jüdischer Siedler in den besetzten Gebieten. Ein Siedler-eigenes Straßennetz wurde gebaut, für Palästinenser stattdessen ein System interner Abriegelungen und Militärkontrollen eingeführt.
Auch innerhalb der Fatah gab es in der Vergangenheit bereits Diskussionen darüber, die Autonomiebehörde angesichts der ausbleibenden Friedensdividende aufzulösen. Damit wäre Israel als Besatzungsmacht wieder für die Palästinenser verantwortlich. Das wollte die Fatah allerdings nicht riskieren, stand doch ihre politisches Programm damit auf dem Spiel. Falls sich die internationale Gemeinschaft jetzt dazu entschließt, ihre Unterstützung für die Palästinenser einzustellen, hätte die Hamas sicherlich viel weniger Skrupel als die Fatah, die Autonomiebehörde aufzulösen und andere Wege zu suchen.
von Uri Avnery
uri-avnery.de
ZNet > Naher Osten > Palästinensische Gesellschaft
Wenn Ariel Sharon sich nicht in einem tiefen Koma befände, wäre er jetzt vor Freude aus dem Bett gesprungen.
Der Sieg von Hamas erfüllt seine heißesten Wünsche und Hoffnungen.
Ein ganzes Jahr lang hat er alles Mögliche getan, um Mahmood Abbas zu unterminieren. Seine Logik war offensichtlich. Die Amerikaner wollten, dass er mit Abbas verhandelt. Solche Verhandlungen hätten unvermeidlich zu einer Situation geführt, die ihn gezwungen hätte, fast die ganze Westbank aufzugeben. Sharon hatte nicht die Absicht, dies zu tun. Er wollte mehr als die Hälfte der besetzten Gebiete annektieren. Also musste er Abbas und sein moderates Image loswerden.
Während des letzten Jahres wurde die Situation der Palästinenser von Tag zu Tag schlimmer. Die Aktionen der Besatzung machte ein normales Leben und den Handel unmöglich. Die Siedlungen in der Westbank wurden ständig größer. Die Mauer/Zaunanlage, die 10% der Westbank abschneidet geht ihrer Vollendung entgegen. Keiner der wichtigen (politischen) Gefangenen wurde entlassen. Es war Sharons Ziel, Abbas vor den Palästinensern schwach erscheinen zu lassen, (?Wie ein Huhn ohne Federn? wie Sharon sagte,) dass er nichts erreichen kann, dass Friedens- und Waffenstillstands-angebote zu nichts führen.
Die Botschaft an die Palästinenser war klar: ?Israel versteht nur die Sprache der Gewalt.?
Nun hat eine Partei diese Sprache gesprochen und so die palästinensischen Wahlen gewonnen.
Warum gewann Hamas?
Die palästinensischen Wahlen bestehen wie die deutschen Wahlen aus zwei Teilen. Die Hälfte der Parlamentsmitglieder wurde nach direkten Parteilisten gewählt (wie in Israel); die andere Hälfte war eine Personen-Wahl in den Wahldistrikten. Damit hatte Hamas einen riesigen Vorteil.
In der Parteilistenwahl gewann Hamas mit nur kleiner Mehrheit. Das würde darauf hinweisen, dass, soweit es die allgemeine politische Linie betrifft, die Mehrheit nicht weit von der Fatahlinie entfernt ist : zwei Staaten, Frieden mit Israel.
Viele der für Hamas abgegebenen Stimmen hat nichts mit Frieden, Religion und Fundamentalismus zu tun, sondern mit Protest. Die palästinensische Behörde, die fast ausschließlich von Fatah geführt wurde, ist von Korruption besudelt. ?Der Mann auf der Straße? hatte das Gefühl, dass die Leute an der Spitze sich nicht um ihn kümmerten. Fatah wurde auch die Schuld für die schreckliche Situation durch die Besatzung gegeben.
Der Ruhm der Märtyrer und der unbeugsame Kampf gegen die enorm überlegene israelische Armee ließ die Popularität der Hamas wachsen.
In den regionalen Personen-Wahlen war die Lage von Hamas sogar noch besser. Hamas hat glaubwürdigere, nicht mit Korruption belastete Kandidaten. Ihre Parteimaschine war weit überlegen, ihre Mitglieder viel disziplinierter. In jedem Wahldistrikt waren dagegen mehrere Fatahmitglieder, die mit einander konkurrierten. Nach Yasser Arafat gab es keinen starken Führer, der Einheit herstellen konnte. Marwan Barghouti, der vielleicht diesen Job hätte tun können, wird in einem israelischen Gefängnis festgehalten ? ein weiteres großes Geschenk Israels für Hamas.
Leute, die an Verschwörungstheorien glauben, könnten behaupten, dass dies alles ein ausgeklügelter israelischer Plan sei.
Einige Leute glauben sogar, dass Hamas von Anfang an eine israelische Erfindung sei. Das ist natürlich weit übertrieben. Aber es ist tatsächlich der Fall, dass in den Jahren vor der 1. Intifada die islamische Organisation die einzige palästinensische Organisation war, die sich in den besetzten Gebieten praktisch frei betätigen konnte.
Die Logik der israelischen Regierung war: unser Feind ist die PLO. Die Islamisten hassen die säkulare PLO und Yasser Arafat. Also können wir sie gegen die PLO ausspielen.
Während außerdem alle politischen Institutionen verboten waren, und selbst die Palästinenser, die für Frieden arbeiteten, verhaftet wurden, weil sie ?illegale? politische Tätigkeiten ausführten, konnte keiner kontrollieren, was in den Moscheen passierte. ?Solange wie sie beten, schießen sie nicht!? war die unschuldige Meinung in der israelischen Militärregierung.
Als die 1. Intifada Ende 1987 ausbrach, hat sich dies als falsch erwiesen. Hamas wurde auch deshalb gebildet, um mit den islamischen Jihad-Kämpfern zu konkurrieren. Innerhalb kurzer Zeit wurde Hamas zum Kern des bewaffneten Aufstandes. Aber fast ein Jahr lang tat der israelische Sicherheitsdienst nichts gegen sie. Dann änderte sich die Politik, als Scheich Achmed Yassin, der geistliche Führer, verhaftet wurde.
All dies wurde eher aus Dummheit denn aus Absicht getan. Nun sieht sich die israelische Regierung der Hamas-Führung gegenüber, die vom Volk demokratisch gewählt wurde.
Was jetzt? Nun, so etwas wie déjà vu ? schon einmal erlebt.
In den 70ern und 80ern erklärte die israelischen Regierung, dass sie niemals mit der PLO verhandeln würde. Sie sind Terroristen. Sie haben eine Charta, die zur Zerstörung Israels aufruft. Arafat ist ein Monster, ein 2.Hitler. Darum niemals, niemals, niemals ...
Schließlich nach viel Blutvergießen, erkannte Israel und die PLO sich gegenseitig an ? und das Oslo-Abkommen wurde unterzeichnet.
Nun hören wir dieselben Töne wieder. Terroristen, Mörder. Die Hamas Charta ruft zur Zerstörung von Israel auf. Wir werden niemals, niemals, niemals mit ihnen verhandeln.
All dies kommt Sharons Kadima-Partei gerade recht, die offen zur einseitigen Annexion von Gebieten aufruft (?Die Grenzen Israels einseitig festlegen?). Dies hilft den Falken der Likud- und der Labor-Partei, deren Mantra heißt: ?Wir haben keinen Partner für Frieden? ? also zur Hölle mit dem Frieden!
Nach und nach wird sich der Ton ändern. Beide Seiten, und auch die Amerikaner werden vom hohen Ross steigen. Hamas wird belegen, dass es für Verhandlungen bereit ist und eine religiöse Basis dafür finden wird. Die israelische Regierung ( wahrscheinlich Ehud Olmert ) wird sich der Realität und dem amerikanischen Druck beugen. Europa wird seine lächerlichen Slogans vergessen.
Am Ende wird jeder darin übereinstimmen, dass ein Friede, in dem Hamas auch ein Partner ist, besser ist, als ein Frieden mit Fatah allein.
Wollen wir darum beten, dass nicht zu viel Blut vergossen wird, bevor dieser Punkt erreicht ist.
(Zum Wahlsieg von Hamas)
von Gideon Levy
Ha'aretz 29.01.2006
Die gute Nachricht aus den besetzten Gebieten ist, dass Hamas die Wahlen gewonnen hat. Im Gegensatz zu dem, was der Chor der nationalen Einschüchterung ? von Benjamin Netanjahu bis Ami Ayalon einstimmig sagt - könnte der politische Wechsel in Palästina gute Nachrichten bedeuten. Nicht dass der Sieg einer extrem religiösen Organisation nicht ohne Gefahren und Probleme wäre und dass eine säkulare, moderate und nicht korrupte Bewegung vorzuziehen wäre. Aber da es diese im Augenblick nicht gibt, kann man ein paar Lichtpunkte beim Hamas-Sieg finden.
Zuerst sind es sehr authentische Ergebnisse, die durch Wahlen erreicht wurden, die korrekt demokratisch waren, obwohl sie unter am wenigsten vorstellbaren demokratischen Umständen statt fanden , unter Besatzung. Wie gewöhnlich wurden wir von unsern Experten mit ( bevorstehender) ?Anarchie? vorgewarnt ? und wie gewöhnlich haben die Palästinenser nicht unsern Erwartungen entsprochen. Es gab keine Schießerei und keinen Tumult: das palästinensische Volk sagte mit bewundernswerter Ordnung, was zu sagen war. Es sagte ?nein? zu einer Bewegung, die ihm nichts in ihrem gerechten Kampf gegen die Besatzung einbrachte und es sagte ?ja? zu jenen, die den Wählern tapfer erschienen und saubere Hände hatten. Das religiöse Problem wurde beiseite geschoben: die meisten Palästinenser ? so kann sicher gesagt werden ? wollen keinen religiösen Staat; sie wollen einen freien Staat.
Zweitens: die Israelis und die Palästinenser können beide wichtige Lektionen aus den Ergebnissen der Wahl lernen . Die Israelis müssen endlich lernen, dass Anwendung von Gewalt nicht die gewünschten Ergebnisse bringt. Im Gegenteil. In den letzten Jahren gab es bis zur Waffenruhe nicht einen Monat, in dem man nicht hörte, dass ein weiterer ?ranghoher? Hamasanhänger eliminiert wurde. Von einer Ermordung zur anderen wurde die Bewegung nur immer stärker. Die Folge: Gewalt ist nicht die Antwort.
Die Palästinenser müssen lernen, dass es die Mäßigung der Bewegung war, die sie zum Sieg führte. Hamas gewann nicht wegen der Terrorangriffe, sie gewann trotz des Terrors. Sie hat sich in den letzten Monaten gemäßigt, hat ?ihr Fell verändert?, war mit einer Waffenruhe einverstanden, die seit November 2004 andauerte. Während dieser Zeit wuchs ihre Macht. Im Gegensatz zur zersplitterten Fatah, deren Führer keine Kontrolle über das hatten, was wirklich in der Bevölkerung vor sich geht. Nicht einmal eine Spielzeugkanone wurde abgefeuert.. Die paar Terrorangriffe der letzten paar Monate waren nicht das Handwerk der gewalttätigen und mörderischen Gruppen, die wir kennen. Dies ist eine wichtige Lektion. Nur Hamas kann den Terror wirklich bekämpfen. Der Krieg, den Israel gegen den Terror mit seinen unzähligen Morden, Zerstörungen, Verhaftungen und Gefängnisaufenthalten kämpft, ist viel weniger wirksam als eine wohl überlegte Entscheidung von den Hamasführern.
Es gibt noch mehr gute Nachrichten: Nur die Rechte kann es tun? Wenn diese Ansicht richtig ist, wenn nur Leute vom rechten Flügel Frieden bringen können wie Ariel Sharon auf unserer Seite, dann stehen wir jetzt vor einer neuen Chance, die nicht versäumt werden sollte. Ein Friedensdeal mit Hamas wird viel stabiler und lebensfähiger sein als jedes Abkommen, das wir mit der PLO unterzeichnen, wenn die Hamas dagegen ist. Hamas kann Konzessionen machen, wo es die Fatah niemals wagen würde. Auf jeden Fall ist die Hamas, die die Regierung bildet, nicht die, die die Selbstmordattentäter schickt. Der Vergleich mit internationalen Terrororganisationen ist auch Unsinn: die Hamas ist eine Bewegung, die für begrenzte nationale Ziele kämpft. Wenn Israel sich nach den Extremisten unter seinen Feinden ausstrecken würde, dann könnte es vielleicht ein wirkliches Abkommen erreichen, das dem Tumor der Besatzung und den Terrorlauf ein Ende setzt. Zu diesem Zweck müssten beide Seiten, Israel und Hamas, sich selbst von den Slogans der Vergangenheit lösen. Diejenigen, die Vorbedingungen stellen, wie die Hamas entwaffnen, werden die Chance verlieren. Man kann unmöglich erwarten, dass sich die Hamas entwaffnet ? genau so wenig, wie man erwarten kann, dass sich Israel entwaffnet. In den Augen der Palästinenser sind die Waffen dazu da, die Besatzung zu bekämpfen ?und wie allgemein bekannt ist, ist die Besatzung nicht zu Ende. Praktisch und tatsächlich auch moralisch sind die Bewaffneten bewaffnet mit F-16 oder mit Qassem-Raketen . Wenn Israel sich verpflichten würde, mit dem Töten von Hamas-Leuten aufzuhören, dann gäbe es Grund zu vermuten, dass Hamas damit einverstanden wäre, wenigstens für eine Weile seine Waffen niederzulegen. Die Monate mit Waffenruhe bewiesen dies, auch wenn Israel nicht mit dem eigenen Schießen aufgehört hat. In den kommenden Monaten wird das Risiko von Terrorangriffen weiter reduziert werden: eine Bewegung, die ihre Herrschaft festigen und internationale Anerkennung gewinnen will, wird sich nicht mit Terror beschäftigen. Sie wird es auch nicht erlauben, dass der islamische Jihad die Schau stehlen wird.
Jetzt ist es an der Zeit, der Hamas die Hand entgegen zu strecken, die jetzt ganz dringend die internationale und besonders die amerikanische Anerkennung braucht, von der sie weiß, dass sie über Israel geht. Wenn Israel gegenüber Hamas freundlich wäre, könnte ihm dies nur von Vorteil sein. Nicht dass Hamas auf einmal all seine extremistischen Forderungen und unrealistischen Träume aufgeben würde. Aber sie wird wissen, wie einige seiner Führer schon erklärt haben, dass einiges beiseite gestellt werden muss, falls es ihren Interessen dienlich ist. Israel, das auf keinen Fall mit Arafat oder Mahmoud Abbas gesprochen hat, hat jetzt eine Möglichkeit der Überraschung. Anstelle noch mehr Jahre mit Zurückweisung zu vergeuden, um sich dann am Ende doch mit der Hamas zusammen zu setzen, lasst uns doch jetzt dieser extremistischen Gruppe die Hände entgegen strecken, die demokratisch gewählt wurde. Israel hat bei solch einem Versuch nichts zu verlieren. Wir haben schon die Großtaten von Händen gesehen, die mordeten, zerstörten, ausrissen und verhafteten; wir haben schon gesehen, dass sich Politik vor unsern Augen erfüllte: Hamas gewann vor unsern Augen die Wahlen.
Die Zukunft ist eine Frage der Mathematik
Oliver Eberhardt 04.02.2006
Der Parteienforscher Professor Ascher Arian im Gespräch über Israels Politik nach Ariel Scharon
Ende November wurde Amir Peretz, Sozialist und Gewerkschafter, zum Vorsitzenden der israelischen Arbeiterpartei gewählt, zog die Sozialdemokraten aus der Regierung unter Führung von Regierungschef Ariel Scharon ab und zwang in damit dazu, den Staatspräsidenten Mosche Kazaw um Neuwahlen zu bitten, bevor Scharon seine eigene Partei Kadima (Vorwärts) gründete und damit einen Massenexodus aus seiner früheren Partei, dem konservativen Likud-Block, anführte.
Unter dem Eindruck der Räumung des Gazastreifens im vergangenen Sommer und durch die Aussicht auf weitere Siedlungsräumungen schnellte die völlig auf Scharon bezogene Neugründung in den Umfragen auf Traumwerte - bis der Regierungschef Anfang Januar einen schweren Schlaganfall erlitt, von dem er sich wohl nicht wieder erholen wird. Seitdem rätselt die Welt über die Zukunft der israelischen Politik und damit auch des Friedensprozesses.
Der Parteienforscher Professor Ascher Arian, Inhaber von Professuren an der Universität Haifa und der City University in New York, beobachtet die Entwicklung der israelischen Parteienlandschaft und die Wählerbewegungen seit Ende den 80er Jahren. Im Interview gibt er einen Ausblick auf die Zukunft nach Ariel Scharon.
Premierminister Ariel Scharon wird nach seinem Schlaganfall mit ziemlicher Sicherheit nicht wieder ins politische Leben zurück kehren können. Wie sieht denn die Zukunft ohne Scharon aus?
Ascher Arian: Das ist ungefähr so, als würden Sie mich bitten, Ihnen die Lottozahlen für die kommende Woche vorherzusagen. Aber schauen wir mal: Ich sehe, dass die Wähler, die bisher für Scharons neue Partei Kadima stimmen wollten, vor allem zur Arbeiterpartei abwandern. Einige von ihnen werden möglicherweise auch zum Likud zurück gehen.
Am Ende werden Kadima und die Arbeiterpartei vermutlich zwischen 20 und 30 von 120 Abgeordneten im Parlament vertreten sein. Der Likud wird bei rund 20 landen, möglicherweise mit einem Stimmenzuwachs am rechten Rand und für die arabischen Parteien. Von da an ist alles eine Frage der Mathematik: Wer wird eine Koalition aufstellen?
Und die künftige Rolle der Kadima? Aktuelle Umfragen prognostizieren ihr trotz Scharons Krankheit immer noch 39 Sitze...
Ascher Arian: Das wird mit Sicherheit nicht so bleiben. Öffentliche Meinung ist in Israel hoch volatil und sagt sehr wenig über das tatsächliche Wahlverhalten aus: Kadima hat in den vergangenen Wochen immer wieder von ihrem Neuigkeitswert profitiert. Wenn dann die Realität eingesunken ist, die ersten unpopulären Entscheidungen getroffen wurden, oder sich die ersten parteiinternen Streitereien zugetragen haben, kehren die Wähler meistens wieder zu den Parteien zurück, die sie kennen.
Diese Erfahrung musste David Ben-Gurion in den 60er Jahren mit einer Parteineugründung genauso machen, wie der ehemalige Verteidigungsminister Jitzhak Mordechai, der Ende der 90er Jahre gemeinsam mit mehreren anderen Politikern die Zentrumspartei gründete: Die anfängliche Euphorie verschwand schnell; beide Gruppierungen versagten an den Wahlurnen.
Kein Grund mehr, für die Partei zu stimmen
Mit Kadima ist es sogar noch schlimmer, weil sie vor allem auf die Position Scharons bezogen ist. Jetzt, wo er nicht mehr präsent ist, wird es für viele keinen Grund mehr geben, für die Partei zu stimmen, zumal Ehud Olmert, der nun die Amtsgeschäfte als Regierungschef führt, von den Wählern zunehmend als farblos und entscheidungsschwach aufgefasst wird: Dass er mit der Räumung der von jüdischen Siedlern besetzten Häusern im ehemaligen Großmarkt von Hebron gewartet und den wochenlangen Auseinandersetzungen zwischen Siedlern und Polizei zugesehen hat, wird ihm von vielen Wählern übel genommen.
Aber wegen der Scharon-Zentriertheit Kadimas bestand immer die Gefahr, dass die Umfragen nicht halten würden, was sie versprachen. Deshalb wollte Scharon nach dem Zusammenbruch seiner Regierung Ende November die Wahlen so bald wie möglich, um den Neuigkeitseffekt seiner Parteigründung ausnutzen zu können.
Wird der Likud-Vorsitzende Benjamin Netanjahu zum zweiten Mal Regierungschef ?
Ascher Arian: Das halte ich für unwahrscheinlich. Selbst wenn der Likud stärkste Fraktion werden sollte, bräuchte Netanjahu entweder Kadima oder die Arbeiterpartei als Koalitionspartner, um an die Macht zu kommen, denn die Stimmen der rechten und religiösen Parteien werden nicht ausreichen. Obwohl Netanjahu die Partei in den vergangenen Tagen wieder ein Stück weit in Richtung Mitte gerückt hat, glaube ich nicht, dass eine Rechts-Mitte-Koalition zustande kommen wird, weil der Likud und selbst Kadima programmatisch zu unterschiedlich sind.
Ehud Olmert hat keinerlei Anreiz, eine Koalition mit der Rechten einzugehen: Kadimas Wähler erwarten weitestgehende Fortschritte im Friedensprozess, die der Likud seiner eigenen Klientel nicht verkaufen könnte. Sollte Olmert dennoch tiefgreifende Zugeständnisse machen, wird Netanjahus Partei keine große Zukunft haben. Die besten Chancen hat deshalb eine Koalition aus Kadima, Arbeiterpartei und Meretz / Jachad, falls es dafür reichen sollte.
Entscheidend wird das Abschneiden der kleineren Parteien sein
Entscheidend wird das Abschneiden der kleinen Parteien sein, und da ist in den vergangenen beiden Wochen unglaublich viel passiert. Die größte Unbekannte hier ist Schinui: Bei der parteiinternen Abstimmung über die Wahlliste haben die Mitglieder einen bislang weitgehend unbekannten, unerfahrenen 34jährigen auf den zweiten Platz gesetzt; vier Abgeordnete sind daraufhin ausgetreten und planen die Gründung einer neuen Partei; auch Parteichef Tommy Lapid denkt über einen Weggang nach.
Schinui, die mit einem radikal-säkularen Programm bei den vergangenen Wahlen 15 Mandate errang, hat viele ihrer Wähler dadurch verstimmt, dass sie einer Koalition mit der religiösen Schas-Bewegung zustimmte. Es könnte also passieren, dass viele der Stimmen an die Arbeiterpartei und an die linksliberale Meretz / Jachad gehen werden.
Deshalb waren Schinui vor dem Bruch maximal sechs Abgeordnetensitze vorhergesagt worden. Sollte sich die Partei nun in zwei Gruppierungen spalten, könnten die Linke und Kadima wegen einer Besondernheit des israelischen Wahlsystems darunter gleichermaßen leiden.
Das Sie uns an dieser Stelle kurz erklären sollten...
Ascher Arian: Gerne. Jede der Parteien muß eine Wahlhürde von 2,5 Prozent der gültigen, abgegeben Stimmen überspringen. Stimmen für Gruppierungen, die dies nicht schaffen, fallen unter den Tisch. Der Rest wird durch 120 geteilt - die Zahl der Stimmen, die für einen Sitz im Parlament gebraucht werden. Überschüssige Stimmen wandern in einen Topf zurück und werden dann nach einem komplizierten Schlüssel, der die großen Parteien begünstigt, unter allen Fraktionen aufgeteilt.
Wichtige "verschwendete Stimmen"
Wahlen werden in Israel durchaus auf der Grundlage von sogenannten "verschwendeten Stimmen" gewonnen: 1996 hatte das Linke Spektrum mehr absolute Stimmen erhalten, als die Rechte und verlor dennoch, weil viele kleine Parteien es nicht über die Wahlhürde schafften, die damals sogar bei nur 1,5 Prozent lag. Noch schlimmer sieht es für die Kleinen bei einer hohen Wahlbeteiligung aus: Schaffen es die Großen viele ihrer eigenen Wähler zu mobilisieren, leiden darunter die Kleinen, weil sie mehr Stimmen brauchen, ohne selbst von der hohen Beteiligung zu profitieren.
Auf der anderen Seite ermutigt dieses System kleine Gruppierungen aber auch dazu, sich zusammenzuschließen, wie es bei den national-religiösen Parteien am rechten Rand geschehen ist: Auf diese Weise können sich die Parteien Stimmen bewahren, die sonst nach dem Verteilungsschlüssel an andere Parteien vergeben würden. Die Parteien müssen zudem in ihrem Wahlkampf stets auch auf mögliche Koalitionspartner achten, sonst könnten sie am Ende als größte Partei dastehen, ohne eine tragfähige Regierung bilden zu können.
Wohin geht Schinui?
Ascher Arian: Noch ist nicht klar, wie sich die Neuerungen auf der Schinui-Liste auf das Wahlverhalten auswirken werden. Sie könnten auch ein Vorteil sein: Die Personalwechsel auf der Wahlliste machen die Partei wieder als säkulare Alternative attraktiv. Es ist schon jetzt zu beobachten, wie Arbeiterpartei und Kadima die Partei mit Samthandschuhen anfassen.
Auftrieb der ultrarechten Parteien
Stattdessen konzentriert sich die Arbeiterpartei darauf Kadima und vor allem der religiös-sefardischen Schas-Bewegung Stimmen abzunehmen, während Kadima versucht beim Likud zu wildern, der als Reaktion ein bisschen in Richtung Mitte gerückt ist. Davon werden allerdings auch die ultra-rechten Parteien profitieren, die ohnehin schon einen Auftrieb durch die Wechselhaltung Netanjahus in der Frage der Siedlungsräumungen im vergangenen Sommer erhalten haben.
Was würde passieren, wenn die arabischen Israelis dieses Mal auf einen Boykott der Wahl verzichten?
Ascher Arian: Das würde in der Tat vieles über den Haufen werfen. Zunächst einmal würden die arabischen Parteien profitieren, die derzeit nur sechs Sitze besetzen, während die Araber aber theoretisch einen Anteil von rund 20 Prozent an der Gesamtwählerschaft haben. Außerdem würden viele Stimmen an die Arbeiterpartei gehen, deren neuer Vorsitzender Amir Peretz sich als Fürsprecher der Minderheiten anbietet und selbst fließend Arabisch spricht. Es ist gut möglich, dass die arabischen Wähler dieses Mal die Wahl entscheiden werden.
von Uri Avnery
uri-avnery.de
NUR NOCH ein Erdbeben kann einen überwältigenden Sieg Kadimas bei den nächsten Wahlen verhindern. Schließ dies aber nicht aus! Während dieser Wahlkampagne haben sich schon vier Erdbeben ereignet. Das erste: Labor wählte einen in Marokko geborenen Führer vom linken Flügel. Zweitens: Ariel Sharon spaltete den Likud und schuf die Kadima-Partei. Drittens: Sharon erlitt einem massiven Schlaganfall und verließ die politische Bühne. Viertens: Hamas gewann bei den palästinensischen Wahlen einen entscheidenden Sieg.
Was könnte nach vier solch überwältigender Umbrüche eine fünfte stoppen? Aber im Augenblick ist es sogar ziemlich schwierig, sich etwas vorzustellen, das Kadimas vorherrschende Stellung in der Wahlkampagne in Frage stellt.
ES SIEHT fast wie Magie aus. Was ist es um Kadima, dass sie so phantastisch in Führung liegt?
Zunächst glaubte man, dass sie nach der anfänglichen Begeisterung auf normale Proportionen zusammenschrumpfen werde. Die Voraussage ( auch die meinige) war, dass am Ende drei mehr oder weniger gleich große Finger auftauchen: der Likuk, Kadima und Labor, die alle etwa 25 Sitze bekommen. Nach den Meinungsumfragen läuft es aber ganz anders.
Zunächst wurde gesagt, es sei die massive Figur von Ariel Sharon, die Kadima an der Spitze halten werde. Nach dem Gazaabzug und besonders nach den melodramatischen Fernseh-Shows der Evakuierung der Siedlungen, hat seine Popularität schwindelnde Höhen erreicht. Als er dann in ein Koma fiel, erwartete man, dass das Los der Partei auch fallen werde - vielleicht erst nach ein paar Tagen Mitleid. Denn wer – um Himmels Willen – ist dieser Ehud Olmert? Nichts als ein unpopulärer, zweitklassiger politischer Parteihengst. Eine Partei unter seiner Führung geht den Bach hinunter.
Doch dies ist bis jetzt auch nicht geschehen.
Im Gegenteil. Es scheint so, als benötige die Sharon-Partei Sharon gar nicht. Und der unpopuläre Olmert erlangte übernacht erstaunliche Popularität.
(So etwas war schon einmal geschehen: Nach dem plötzlichen Tod von Ministerpräsident Levy Eshkol 1969 folgte Golda Meir - damals eine sehr unpopuläre Parteipolitikerin. Nachdem sie Ministerpräsidentin geworden war, stieg ihr Popularitätsgrad praktisch übernacht von 3% (drei) auf 80 % ( achzig).
Vor ein paar Tagen geschah etwas noch Seltsameres: Olmert verlor ein paar Popularitätsgrade, während die von Kadima tatsächlich stieg. Es sah so aus, als ob sie selbst dann zunehmen würde, wenn Caligulas Pferd die Führung übernehmen würde.
Im Augenblick – 48 Tage vor der Wahl – wird nach den Umfragen die Verteilung der Sitze in der nächsten Knesset folgendermaßen vorausgesagt: 40-45 Sitze für Kadima, etwa 20 für Labor, rund 17 für den Likud. Der Rest von 120 – etwa 40 Sitze – wird unter die kleineren 9-10 Parteien aufgeteilt werden.
Falls dies von den Wahlurnen bestätigt wird, wird Olmert in der Lage sein, eine Koalition nach Belieben zu bilden. Da gibt es viele Möglichkeiten: mit der Likud und den rechtesten Parteien, mit Labor und den linken Parteien, mit Labor und mit Likud, mit den rechten und den religiösen Parteien. Mindestens ein Dutzend verschiedene Möglichkeiten.
WORIN LIEGT also die magische Qualität, die Kadima vor allem Schaden bewahrt und sie fast unbesiegbar erscheinen lässt?
Es ist nicht das erste Mal, dass in Israel am Vorabend von Wahlen eine neue Partei auftaucht, sich in die Mitte platziert und Stimmen von links und rechts einsammelt. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sich eine neue Partei mit der augenblicklichen allgemeinen Stimmung verbindet und mehr als den erwarteten Erfolg hat. 1965 war es so mit der neuen Rafi-Partei von David Ben-Gurion, Moshe Dayan und Shimon Peres, die 10 Plätze gewann. 1977 gewann die neue Dash-Partei von Yigal Yadin und seine Bande von Generälen überraschende 15 Sitze. Bei den letzten Wahlen gewann die Shinui-Partei auf Anhieb auch 15 Sitze. Aber keine näherte sich dem jetzt erwarteten Erfolg von Kadima.
Wie kommt es, dass Kadima von Null auf 40 springt und diese leitende Position trotz der Schicksalsschläge hält – trotz Sharons Verschwindens, trotz Hamas’ Sieg, trotz der Polizeipferde, die Amonas Siedler angriffen, (wie man im Fernsehen verfolgen konnte), trotz der Angriffe von Links und Rechts ?
Nun, Kadima hat eine gute Mischung von Politikern vom rechten und vom linken Flügel angezogen, die sich gut ergänzen. Zaki Hanegbi, ein rechter Hooligan, der jetzt wie ein Staatsmann aussieht, ergänzt den weltberühmten, äußerst erfolglosen Shimon Peres, Zipi Livni vom rechten Flügel mit einer anständigen, vernünftigen Fassade ergänzt Haim Ramon vom linken Flügel mit einer Geschichte politischen Abenteurertums.
Kadima aber ist eine Entität, die über den sie zusammen setzenden Persönlichkeiten steht: Sie stellt genau das dar, was die meisten Israelis zu diesem Zeitpunkt empfinden. Sie liefert einen Fokus für den israelischen Konsens vom Anfang dieses Jahre. Das ist die Hauptsache. Dieser Konsens lautet: Der große Unterschied zwischen reich und arm ist tatsächlich bedauerlich, aber nicht so wichtig. Amir Peretz ist es nicht gelungen, dieses zum zentralen Thema zu machen.
Die Mehrheit will ein Ende des Konfliktes und hasst die Siedlungen. Der Hamassieg in Palästina hat keine Panik ausgelöst. Darum hatte Binyamin Netanyahu mit seiner Kampagne keinen Erfolg.
Die Öffentlichkeit vertraut den Arabern nicht und will nichts mit ihnen zu tun haben. Deshalb ist sie an Kadimas Hauptgedanken interessiert: dass man einen „einseitigen“ Frieden machen kann.
Klar, ein „einseitiger Frieden“ ist ein Widerspruch in sich selbst. Olmerts bekanntestes Versprechen – die Siegesformel – lautet: „Lasst uns die bleibenden Grenzen Israels einseitig bestimmen“. Das ist natürlich völliger Unsinn. Weder die Palästinenser noch die arabische Welt , noch die USA und die Familie der Nationen wird eine Grenze anerkennen, die ohne Abkommen festgelegt wurde. Sie wird keinen Frieden bringen, sondern für die nächsten Generationen nur eine Fortsetzung des blutigen Konfliktes.
So wäre es, wenn es nach der Logik ginge. Aber bei Wahlen handelt man oft nicht logisch, sondern emotional. Olmerts Versprechen, „sich von den Palästinensern zu trennen“ ist nur eine elegantere Wendung des vulgären Satzes: „Bringt die Palästinenser aus den Augen!“ – und das ist im Moment populär.
Olmert stellt klar fest, wo die Grenze auf Dauer einseitig festgelegt verlaufen soll. Das Prinzip heißt: ein jüdischer Staat so groß wie möglich mit so wenig Arabern wie möglich. Er beabsichtigt, die „Siedlungsblöcke“, Groß-Jerusalem, nicht genau bezeichnete „Sicherheitszonen“ und das Jordantal zu annektieren.
Unter den Siedlungsblöcken erwähnt er Ariel, Modi’in Illit, Maaleh Adumim und Etzion. Wie ein Wunder passt genau dies zur Mauer- und Zaunanlage, die gerade gebaut wird (und bestätigt damit, was wir die ganze Zeit behaupteten: der Zaun/ die Mauer verläuft nicht wegen Sicherheitsgründen so, sondern genau nach der Annexionskarte.)
Olmerts Karte ist natürlich mit der Karte Sharons identisch. Im Gegensatz zu Sharon sagt er nur offen und im Detail. Sie annektiert 58 % der Westbank. Was sie den Palästinensern noch lässt (zusammen 11% des Palästinas von vor 1948) sind von der Welt abgeschnittene und isolierte Enklaven.
Yossi Beilin, der Initiator der „Siedlungsblöcke“-Idee, hat schon angekündigt, dass seine linke Meretz-Partei sich der zukünftigen Olmert-Koalition anzuschließen wünscht. Labor hat dies noch nicht offen verkündigt, aber sie hofft dies ziemlich deutlich. Sicherlich werden sie noch mit Olmert über die endgültige Festlegung der Grenze streiten. Sie akzeptieren aber allgemein seine Auffassung.
Es gab einmal eine scherzhafte Bemerkung, die in Amerika die Runde machte: „Was ich am meisten hasse, sind Rassisten und Nigger“. Nun wünscht der durchschnittliche Israeli „Frieden ohne Araber“. Kadimas „einseitige“ Einstellung spiegelt damit genau diese Position wieder - und es ist leider das Geheimnis ihres Erfolges.
von Uri Avnery
uri-avnery.de / ZNet Deutschland 18.02.2006
EINER UNSERER früheren Generalstabschefs, der verstorbene Rafael (?Raful?) Eitan, der nicht gerade eine Leuchte war, fragte einmal einen ausländischen Gast: ?Sind Sie Jude oder Christ?? ?Ich bin Atheist!? antwortete dieser. ?Ok, ok,? reagierte Raful ungeduldig, ?ein jüdischer Atheist oder ein christlicher Atheist??
Nun, ich bin ein 100 %er Atheist. Und ich mache mir immer mehr Sorgen, dass der israelisch-palästinensische Kampf, der unser ganzes Leben beherrscht, einen immer religiöseren Charakter annimmt.
DER HISTORISCHE Konflikt begann als Zusammenstoß zwischen nationalen Bewegungen, die religiöse Motive nur als Dekoration verwendeten.
Die zionistische Bewegung war von Anfang an nicht religiös, eher anti-religiös. Fast alle Gründungsväter selbst waren erklärte Atheisten. In seinem Buch ?Der Judenstaat?, der Gründungscharta des Zionismus, sagte Theodor Herzl: ?Wir werden sie (unsere Geistlichen) in ihren Tempeln festzuhalten wissen?. Chaim Weitzman war ein agnostischer Wissenschaftler. Vladimir Jabotinsky bat darum, seinen eigenen Leichnam zu verbrennen ? im Judentum eine Sünde. David Ben Gurion weigerte sich sogar, bei Beerdigungen seinen Kopf mit einer Kipa zu bedecken.
All die großen Rabbiner seiner Zeit, Chassidim und ihre Opponenten, die Missnagdim, verurteilten Herzl und verfluchten ihn tüchtig. Sie wiesen die Grundthesen des Zionismus zurück, die Juden seien eine ?Nation? im europäischen Sinne, und sahen die Juden stattdessen als ein heiliges Volk an, das nur durch die Erfüllung der göttlichen Gebote zusammengehalten werde.
Außerdem war die zionistische Idee in den Augen der Rabbiner eine Hauptsünde. Der Allmächtige verordnete den Juden als Strafe für ihre Sünden das Exil. Deshalb könne nur der Allmächtige selbst die Strafe widerrufen und den Messias senden, der die Juden zurück ins Heilige Land bringe. Bis dahin sei es streng verboten, ?in Massen zurückzukehren?. Indem man Massenimmigration ins Land organisiert, rebellieren dieZionist gegen Gott und - was noch schlimmer ist ? sie verzögern das Kommen des Messias. Einige Chassidim, wie die Satmar-Sekte in Amerika und eine kleine Gruppe, aber mit hohen Grundsätzen in Israel, die Netura Karta (?Wächter der Stadt?) in Jerusalem halten noch an diesem Glauben fest.
Die Zionisten haben sich zwar die Symbole des Judentums angeeignet (den Davidstern, den siebenarmigen Leuchter aus dem Tempel, den Gebetsschal, der zur Flagge wurde, sogar den Namen ?Zion?), aber das war nur eine zweckmäßige Manipulation. Die kleine religiöse Fraktion, die sich dem Zionismus anschloss ( die ?religiösen Zionisten?) waren eine Randgruppe.
Vor dem Holocaust lernten wir in den zionistischen Schulen Palästinas, mit erbarmungsloser Verachtung all das zu behandeln, was aus dem ?jüdischen Exil? kam: die jüdische Religion, das jüdische Stetl, die jüdischen Sozialstrukturen ( ?die umgekehrte Pyramide?). Erst der Holocaust änderte die Haltung gegenüber der jüdischen Vergangenheit in der Diaspora, die im Hebräischen gewöhnlich als Galuth (Exil) bezeichnet wurde.
Ben Gurion machte den religiösen Gruppen, einschließlich den anti-zionistisch eingestellten Orthodoxen, einige Konzessionen. Er befreite ein paar hundert Yeshiva-Studenten vom Militärdienst und errichtete ein getrenntes ?staats-religiöses? Schulsystem. Sein Ziel war, bequeme Koalitionspartner zu gewinnen. Diese Vorgehensweise gründete sich jedoch auf der Annahme ( die uns damals allen gemeinsam war), dass sich die jüdische Religion unter der brennenden Sonne Israels bald verdunsten und nach ein oder zwei Generationen im Ganzen verschwunden sein werde. All das änderte sich nach dem Sechs-Tagekrieg . Die jüdische Religion erlebte ein erstaunliches Comeback.
AUF DER palästinensischen Seite geschah etwas Ähnliches, aber mit einem völlig anderen Hintergrund. Die arabische Nationalbewegung war auch unter dem Einfluss der europäischen Nationalidee entstanden. Ihre geistigen Väter riefen zur Befreiung der arabischen Nation von den Fesseln der ottomanischen Herrschaft auf und später vom Joch des europäischen Kolonialismus. Viele von ihnen waren arabische Christen.
Als sich nach der Balfour-Erklärung und dem britischen Palästinamandat eine eigene palästinensische Nationalbewegung gebildet hatte, hatte diese keinen religiösen Charakter. Um sie zu bekämpfen, bestimmten die Briten eine religiöse Persönlichkeit zur Führung der palästinensischen Gemeinschaft in Palästina: Haj Amin Al-Husseini, den Großmufti von Jerusalem, der sich schnell die Führung des palästinensischen Kampfes gegen die zionistische Einwanderung anmaßte. Er bemühte sich, der palästinensisch-arabischen Rebellion einen religiösen Charakter zu geben. Indem er die Zionisten anklagte auf dem Tempelberg mit seinen islamischen Heiligtümern böse Absichten zu hegen, versuchte er, die Muslime zu überzeugen, die Palästinenser zu unterstützen.
Der Mufti scheiterte vollkommen, und sein Fehlschlag spielte bei der Katastrophe seines Volkes eine Rolle. Die Palästinenser haben ihn aus ihrer Geschichte ausgelöscht. In den 50ern verehrten sie Gamal Abd-al Nasser, den Bannerträger des säkularen pan-arabischen Nationalismus?. Später, als Yasser Arafat die moderne palästinensische Nationalbewegung gründete, unterschied dieser nicht zwischen Muslimen und Christen. Bis zu seinem Ende bestand er auf der Befreiung der ?Moscheen und Kirchen? in Jerusalem.
In einem Stadium ihrer Entwicklung rief die PLO zur Schaffung eines ?demokratischen, säkularen Staates auf, in dem Muslime, Juden und Christen zusammen leben werden?.( Arafat liebte das Wort ?säkular? nicht, sondern zog ?la-malia? vor, was ?nicht-konfessionell? bedeutet. George Habash, der Führer der ?arabischen Nationalisten? und später der ?Volksfront für die Befreiung Palästinas? ist Christ.
Die Situation änderte sich mit dem Ausbruch der 1. Intifada Ende 1987. Erst dann begannen die islamischen Bewegungen Hamas und der islamische Jihad, den nationalen Kampf zu übernehmen.
DER ERSTAUNLICHE Sieg der israelischen Armee im 6-Tagekrieg, der wie ein Wunder aussah// empfunden wurde, löste eine tiefe politische und kulturelle Veränderung in Israel aus. Als das Shofarhorn an der Klagemauer ertönte, übernahm die religiöse Jugend, die bis dahin nur am Rande dahinvegetierte, die Mitte der historischen Bühne ein.
Plötzlich entdeckte man, dass das religiöse Bildungssystem, das von Ben Gurion als politische Bestechung - und im Gegensatz zu seiner eigenen Überzeugung - eingeführt wurde, im Stillen ein fanatisch religiöses Produkt geschaffen hat. Die religiöse Jugendbewegung, die all die Jahre unter Demütigung und Minderwertigkeitsgefühlen litt, begeisterte sich, begann die Siedlungsbewegung und führte die wichtigste nationale Leistung an: die Annexion der besetzten Gebiete.
Die jüdische Religion selbst machte eine Mutation durch. Diese Mutante legte ihre universalen Werte beiseite und wurde zu einem engstirnigen, militanten, fremdenfeindlichen Stammesglauben, dem es um Eroberung und ethnische Säuberung geht. Die religiösen Zionisten der neuen Sorte sind davon überzeugt, dass sie den Willen Gottes erfüllen und das Kommen des Messias vorbereiten. Die ?national-religiösen? Kabinettsminister, die immer zum moderaten Flügel der Regierung gehörten, machten einer neuen extremistischen Führung Platz, mit Tendenzen von religiösem Faschismus.
Israel ist kein religiöser Staat geworden. Es hat noch immer eine große säkulare Mehrheit. Nach dem maßgeblichen Statistikbüro der Regierung definieren sich nur 8% von Israels Juden als ?orthodox? (Haredim), 9% als ?religiös? ( religiöse Zionisten), 45 als ?säkular, nicht religiös? und 27 % als ?säkular - traditionell?.
Doch wegen ihrer Rolle im Siedlungsunternehmen haben die Religiösen einen großen Einfluss auf den politischen Prozess. Sie haben praktisch jede Bewegung in Richtung Frieden mit den Palästinensern verhindert. Sie haben auch die religiöse Reaktion auf der andern Seite provoziert.
DER PALÄSTINSISCHE Widerstand gegen die Besatzung, die einen Höhepunkt während der 1. Intifada 1987 erreichte, gab den religiösen Kräften einen großen Auftrieb. Bis dahin waren sie imStillen gewachsen ( nicht ohne Ermutigung durch die Besatzungskräfte, die in ihnen ein Gegengewicht zur säkularen PLO sahen).
Die 1. Intifada führte zum Oslo-Abkommen und brachte Yasser Arafat nach Palästina zurück. Aber die neue palästinensische Behörde verfehlte ihr Ziel, der Besatzung ein Ende zu machen und einen säkularen palästinensischen Staat zu errichten. Als die Siedlungen sich weiter über die Westbank und den Gazastreifen ausdehnten, neigte die palästinensische Öffentlichkeit immer mehr zu bewaffnetem Widerstand. Und in diesem Kampf mit den für sie sehr begrenzt erreichbaren Mitteln zeichneten sich die religiösen Gruppen aus. Für eine religiöse Person ist es leichter, ihr Leben bei einem Selbstmordangriff zu opfern als für den säkularen Cousin.
Die Wut der palästinensischen Öffentlichkeit über die Korruption, die Teile der säkularen Fatahführung infizierte (aber nicht den asketisch lebenden Yasser Arafat, dessen Ruf sauber blieb) hat die Popularität der religiösen, die als ehrlich gelten, nur gefördert.
SEIT JAHREN werde ich wie von einem Alptraum verfolgt, der israelisch-palästinensische Konflikt könnte sich aus einer nationalen, zu einer religiösen Konfrontation entwickeln.
Ein nationaler Konflikt - so schrecklich er ist ? ist lösbar. Während der letzten beiden Jahrhunderte wurden viele nationale Kriege geführt, und fast alle endeten mit einem territorialen Kompromiss. Solche Konflikte sind von Grund her logisch und können auf rationalem Wege beendet werden. Bei religiösen Konflikten ist es anders. Wenn beide Seiten an göttliche Gebote gebunden sind, dann wird es um vieles schwieriger, einen Kompromiss zu erreichen.
Religiöse Juden glauben, dass Gott ihnen das ganze heilige Land verheißen habe. Darum ist es eine nicht vergebbare Sünde, einem Fremden d.h. Nichtjuden etwas davon abzugeben. In den Augen muslimischer Gläubigen ist das ganze Land aber Waqf (unter religiöser Obhut). Und deshalb ist es absolut verboten, einen Teil davon an Ungläubige zu geben . (Als der Kalif Omar vor ca. 1400 Jahren Palästina eroberte, erklärte er es zum Waqf. Der Grund war ganz praktisch. Er wollte verhindern, dass seine Generäle dieses Land unter sich teilten, wie sie es wollten.)
Nebenbei gesagt: die evangelikalen christlichen Fundamentalisten, die Washington zur Zeit beherrschen, sehen das Heilige Land auch als religiösen Besitz, zu dem die Juden zurückkehren müssen, um die Wiederkunft Christi zu ermöglichen.
Ist ein Kompromiss unter solchen Mächten möglich? Sicherlich ja, aber es ist viel, viel schwerer. Einem frommen Muslim ist es erlaubt, einen Waffenstillstand über 100 Jahre und mehr auszurufen, ohne dass seine Seele zur Hölle verurteilt wird. Ariel Sharon, der mit der Evakuierung der Siedler begann, sprach über ?langfristige Abmachungen?. In der Politik tendieren vorläufige Maßnahmen, dauerhaft zu werden.
Hier ist jedoch viel Weisheit nötig, Raffinesse, Spitzfindigkeit und Geduld, um unter diesen schwierigen Umständen eine Lösung zu erreichen.
An dem Tag, an dem Arafat starb, waren mir viele Israelis böse, weil ich (in einem Interview in Haaretz) sagte, dass wir uns noch einmal nach diesem säkularen Führer sehnen werden, der gleichzeitig bereit und fähig war, mit uns Frieden zu schließen. Ich sagte, dass seine Eliminierung das letzte Hindernis für einen Aufschwung des islamischen Fundamentalismus? in Palästina und der ganzen arabischen Welt wegräumen werde.
Man muss kein Prophet gewesen sein, um dies vorauszusehen.
"Die Palästinenser sollen schlanker werden, aber nicht sterben"
Und für Hamas Diät *
von Gideon Levy
Ha'aretz / ZNet Deutschland 19.02.2006
Das Hamas-Team hat seit langem nicht so gelacht. Das Team, das von Dov Weissglas, dem Berater des Ministerpräsidenten geleitet wird und zu dem auch der Generalstabschef der IDF, der Direktor des Shin Bet, ranghohe Generäle und Offiziere gehören, waren zu einer Konferenz mit der Außenministerin Zipi Livni zusammengerufen worden, um darüber zu beraten, wie man auf den Wahlsieg der Hamas reagieren solle. Jeder war damit einverstanden, dass man die palästinensische Behörde unter wirtschaftlichen Druck setzen müsse. Und Weissglas ? wie gewöhnlich ? lieferte die Pointe: ? Es ist wie ein Termin beim Diätassistenten. Die Palästinenser sollen schlanker werden, aber nicht sterben,? scherzte der Berater und die Teilnehmer konnten sich kaum vor Lachen halten. Und warum nicht bei solch einem erfolgreichen Witz in Lachen ausbrechen und entspannen? Falls Weissglas diesen Witz auch seiner Freundin Condoleezza Rice erzählt, wird sie sicher auch lachen.
Aber Weissglas? Witzelei war besonders geschmacklos. Wie das von ihr ausgelöste laute Gelächter zeigte es noch einmal, wie weit Israels Machtrausch dieses verrückt macht und seine Moral vollkommen verzerrt. Mit einem einzigen Witz demonstrierte der erfolgreiche Anwalt und Hedonist aus der Lilienblumstraße in Tel Aviv die kalte Gefühllosigkeit, die sich in den oberen Etagen der israelischen Politik und Gesellschaft ausgebreitet hat. Während ein großer Teil der Palästinenser bei erschreckend hoher Arbeitslosigkeit unter unmenschlichen Bedingungen in Armut lebt, die in Israel so nicht bekannt ist, dazu gedemütigt und eingesperrt ? und zwar unter unserer Verantwortung und durch unsere Schuld, verhängen die obersten militärischen und politischen Bonzen unter herzhaftem Gelächter eine wirtschaftliche Belagerung, die noch brutaler als die bisherige sein wird.
Der Vorschlag, hungernde Leute auf Diät zu setzen, wird hier ohne Schock, ohne öffentliche Kritik akzeptiert; selbst wenn es nur im Scherz gesagt wurde, ist es unvergleichlich schlimmer als die dänische Karikatur. Es spiegelt eine weit verbreitete Stimmung wider, die in grausame, praktische Maßnahmen übergehen wird. Wenn man bis jetzt behaupten konnte, dass Israel in erster Linie Gefühllosigkeit gegenüber dem Leiden anderer zeigt und seine Augen und Ohren vor dem Stöhnen einer ganzen Nation - nur wenige Kilometer entfernt - verschließt, macht Israel jetzt auch Witze auf Kosten des Leidens anderer.
Dies war nicht Weissglas? erster Witz oder Beitrag zum rassistischen und herren-menschentümlichen öffentlichen Diskurs gegenüber den Palästinensern. Sein wahres Gesicht zeigte er schon vor anderthalb Jahren in dem berühmten Interview mit Ari Shavit in Haaretz, als er bemerkte: ?Wir haben der Welt beigebracht, zu verstehen, dass es für uns niemanden gibt, mit dem wir reden können. Und so erhielten wir ein spezielles Zertifikat ?Mit-keinem-zu-reden ... das Zertifikat wird erst dann widerrufen, wenn das und das geschieht ? wenn Palästina Finnland wird.? Das war die Spitze des Zynismus: Der Mann, der bis zum Hals in der Annex- Untersuchungsaffäre steckte ? der Shell-Gesellschaft, die große Geldbeträge an den Ministerpräsidenten leitete ? stellt Verhandlungsbedingungen an die Palästinenser, um sie in das Land zu verwandeln, das bei einer Untersuchung am wenigsten korrupt erschien, während Israel auf dem nicht beneidenswerten Platz 26 aufgelistet war.
Die Empfehlung einer ?Diät? zusammen mit Erlassen, die Israel plant, über das palästinensische Volk zu verhängen, hätte einen lauten Aufschrei in der israelischen Gesellschaft hervorrufen müssen. Selbst wenn wir das schreckliche, politische, dumme Geschwätz, Hamas in eine Ecke zu stellen, beiseite lassen, statt ihr eine Chance zu geben, ihre Einstellung zu ändern, und selbst wenn wir die Tatsache ignorieren, Israel plane, die Steuereinnahmen zu konfiszieren, die ihm gar nicht gehören so läßt die Kadima-Regierung Fragen nach ihrer Menschlichkeit hochkommen. Woher bekommen wir das Recht, ein ganzes Volk in dieser Weise zu misshandeln? Das hängt nur mit unserer großen Macht zusammen, und dass die USA uns erlaubt, uns wie Wilde zu benehmen und zu tun und zu lassen, was uns gefällt.
Wir haben vor langer Zeit aufgehört, über Moral zu reden ? wir leben eben nicht in Finnland. Dennoch wäre es eine gute Frage: Welches Land würde es wagen, die ( sowieso schon miserablen) Lebensbedingungen von Bewohnern eines unter seiner Besatzung stehenden Gebietes noch zu verschlechtern? Was für eine Sünde haben die 4000 glücklichen Leute aus Gaza begangen, denen es bis jetzt noch erlaubt war, innerhalb Israels zu arbeiten und für die nun die Tore geschlossen werden? Haben die Entscheidungsmacher daran gedacht, wie diese unterdrückten Leute zusammengedrängt und gedemütigt am Erez-Übergang erschöpft nach einem Arbeitstag nach Hause kehren? Mehr als die Hälfte aller Palästinenser leben nach dem letzten UN-Bericht (Dez.2005) schon in Armut. Im letzten Jahr hatten schon 37 % Schwierigkeiten Lebensmittel zu kaufen und 54 % der Bewohner des befreiten Gazastreifen kürzen die Lebensmittel, die sie verbrauchen. Die Kindersterblichkeit stieg auf 15 % und der Durchschnitt der Arbeitslosenrate liegt bei 28% ( ich meine bei 50-70% R) Um in der Westbank zu reisen, müssen Palästinenser 397 Checkpoints passieren und nun will Israel zusätzlich eine noch härtere Hand führen.
Wenn es da ein Hindernis gibt, so ist es nur der Zwang, das Image zu bewahren. Israel fürchtet die Verbreitung des Hungers nur wegen der Reaktion der Welt ? nicht wegen der Brutalität, die damit verbunden ist. Trotzdem konkurrieren die Politiker hier mit einer Reihe extremer Vorschläge, einschließlich dem Abstellen des Stroms und des Wassers und wollen Millionen von Unschuldigen sich selbst überlassen. Ist das nun Wahlpropaganda? Ist es das, was der israelische Wähler wünscht?
Was man von dort sieht, ist wahrlich nicht das, was man von hier sieht: vom piekfeinen Restaurant, wo Weissglas und seine Kollegen vom Hamas-Team dinieren, vom raffinierten Straßensystem, auf dem sie in ihren Dienstwagen entlang rasen, von den wunderbaren Konzerthallen und den häufigen Reisen ins Ausland - kann man das Leiden nicht sehen. Von dort ist es einfach, noch mehr Erlasse mit einem Zungenschlag zu erteilen, ohne ihre entsetzlichen Auswirkungen in den elenden Gassen Jenins und den ruinierten Hütten von Rafah zu berücksichtigen. Von dort kann man dann sogar Witze ziehen.
Orginaltitel: As the Hamas team laughs ? Wie das Hamasteam lacht
Die müssen in riesigen voneinander abgeschotteten Ghettos leben.
Ich glaub da ist mit "machen" nicht viel. Da geht überhaupt nichts!
von Amira Hass
Ha'aretz 13.02.2006
Während die internationale Gemeinschaft im letzten Sommer mit dem Abzug aus dem Gazastreifen beschäftigt war, bereitete Israel einen anderen Ablösungsprozess vor, der unbemerkt blieb: 2005 schloss Israel einen Abtrennungsprozess des östlichen Sektors der Westbank, einschließlich des Jordangrabens, ab. Etwa 2 Mill. Palästinensern, Bewohnern der Westbank, wird verboten, das Gebiet zu betreten, das etwa ein Drittel der Westbank, den Jordangraben, das Gebiet um das Tote Meer und die östlichen Hänge der Judäischen Berge umfasst. Militärische Quellen berichteten Haaretz, dass die Maßnahmen aus ?Sicherheitsgründen? von der IDF vorgenommen worden waren und dass es keine Verbindung zu irgend welchen politischen Absichten gäbe. Bewegungseinschränkungen für die Palästinenser hätte es im Jordantal nach und nach schon von Beginn der 2. Intifada an gegeben; sie seien nur ausgedehnt worden. Aber das radikale Verbot für Palästinenser, das Gebiet zu betreten, wurde in der Tat nach dem 16. März 2005 erlassen, als man den Palästinensern in Jericho die Verantwortung für die Sicherheit übertragen hatte. Zur damaligen Zeit ? sagen palästinensische Quellen ? hätte man palästinensischen Reisenden, die von der Allenby-Brücke ( der einzigen Verbindung ins Ausland) kamen , die Durchfahrt durch das Jordantal verboten, auch wenn sie in den Norden der Westbank oder in Dörfer am Rande des Jordantales und in der Nähe der dortigen Checkpoints wollten. Außerdem wurde es seitdem Bewohnern von Jericho und dem Rest der Westbank verboten, durch den Ouja-Kontrollpunkt, nördlich von Jericho, in Richtung Jordantal zu fahren.
Das Verbot betrifft auch Tausende von Bewohnern von Städten und Dörfern der nördlichen Westbank wie Tubas und Tamun, deren größter Teil ihres Landbesitzes im Jordantal liegt; einige dieser Bewohner haben außerdem jahrelang im Jordantal gelebt. Die Bewohner der Jordantaldörfer sind eng mit den Familien der Westbankdörfer verbunden oder durch gemeinsames Land, durch Arbeit, Schule, medizinische und soziale Versorgung.
Von diesem Verbot betroffen sind auch Palästinenser, die jahrelang ihren Lebensunterhalt durch landwirtschaftliche Saisonarbeit im Jordantal gemacht haben oder die mehreren Tausend Beduinen und Schafhirten, die dort auf Dauer in Zelten oder Hütten leben, aber als Einwohner der Städte und Dörfer in der Nähe registriert sind . Seit Beginn der Intifada ist es Palästinensern verboten, die Straße 90, die Talstraße, zu benützen. Sie darf nur von Bewohnern des Jordantales und nur nördlich von Jericho befahren werden. Dieses Bild eines so großen, völlig abgeschnittenen palästinensischen Gebietes von der restlichen Westbank tauchte nach Fahrten und Gesprächen auf, die Haaretz in diesem Gebiet im Laufe der letzten Wochen durchgeführt hat, auch aus Zeugnissen, die B?tselem gesammelt und von Berichten offizieller Mitarbeiter des UN-Büros für die Koordination für humanitäre Angelegenheiten. Vier Dauerkontrollpunkte sichern ab, dass die Durchfahrt Palästinensern verwehrt wird, deren Personalpapiere sie nicht als Bewohner des Jordantales ausweisen. Die Durchfahrt ist nur ein paar Tausend Besitzern von Sonderausweisen der Zivilverwaltung und etwa 5000 Palästinensern, die in den Siedlungen arbeiten, gestattet.
Etwa 1500 von denen, die eine Genehmigung der Zivilverwaltung haben ( nur 3 Monate lang gültig, wird selten verlängert) sind Bewohner der Gegend um Tubas, die dort Land besitzen und im Jordantal arbeiten . Ein paar Hundert sind Lehrer und im Gesundheitswesen tätig . Die übrigen sind Händler und Fahrer.
Sondergenehmigungen werden bei ?humanitären Fällen? gewährt, wie Hochzeiten, Familienangelegenheiten, Beerdigungen etc. und müssen im voraus mit der zivilen Verwaltung und dem Militär abgesprochen werden. Um das Verbot zu kontrollieren führen die IDF häufig nächtliche Streifzüge in den Dörfern im Jordantal durch. Palästinenser, die dort nicht als Bewohner registriert sind, werden zum Taysir-Kontrollpunkt gefahren und dort rausgeschmissen. Die Soldaten konfiszieren die Personalkarten von denen, die eine ?unkorrekte? Adresse haben. Eine IDF-Quelle, die die obenerwähnten Bewegungsbeschränkungen für Palästinenser im Jordantal bestätigte, sagte, es sei die einzige Möglichkeit, ein so großes Gebiet wie das des Jordantals zu schützen, indem man Reisebeschränkungen auferlegt, Kontrollpunkte errichtet und den Verkehr dirigiert, damit die jüdischen Gemeinden und die Straße 90 als strategische Durchfahrtsstraße geschützt seien.
Eine ungewöhnliche Konferenz
von Uri Avnery
uri-avnery.de / ZNet Deutschland 25.02.2006
EIN ENDERGEBNIS von 1:1 mag nicht sehr beeindruckend sein, aber für die Jungs von Bil?in war es ein rühmliches Ereignis Für sie war nicht das Ergebnis ausschlaggebend, nicht einmal der Wettkampf (gegen das Team vom benachbarten Betunia) selbst, sondern der Platz, auf dem er statt fand: ein improvisierter Fußballplatz, der in Eile auf dem von der Mauer gestohlenen Dorfland eingeebnet worden war.
Der Wettkampf wurde als Teil eines einzigartigen Ereignisses abgehalten. In dem armen, kleinen Dorf mit seinen 1500 Einwohnern, von dem bis zu seinem heldenhaften Kampf gegen die Mauer nur wenige gehört hatten. Hier fand eine ?internationale Konferenz über den gemeinsamen gewaltfreien Kampf gegen die Mauer? statt. Im Rahmen dieses Ereignisses, das zwei Tage dauerte, fanden eine Reihe Veranstaltungen und Aktivitäten statt: Berichte und Debatten über den Kampf, die Auszeichnung mit Ehrenplaketten an die Familien, von den neun Menschen ihr Leben im Kampf gegen die Mauer verloren hatten, das Pflanzen von jungen Olivenbäumen auf gestohlenem Land, die Einweihung des Fußballfeldes und das Fußballspiel selbst.
Ich hatte die Ehre, eingeladen worden zu sein, um eine der Eröffnungsreden vor etwa 300 Leuten zu halten, vor Einwohnern von Bil?in, Mitgliedern des Palästinensischen Parlamentes, Vertretern des Kampfes aus verschiedenen Gebieten entlang der Mauer, israelischen Friedensaktivisten und Abgeordneten aus europäischen Solidaritätsgruppen. Hier ist, was ich sagte:
Liebe Freunde,
Jedes Mal, wenn ich nach Bil?in komme, bin ich aufgeregt und glücklich. Dieses Dorf ? so klein es ist ? ist zu einem Symbol in Palästina, ja, in Israel und tatsächlich in der ganzen Welt geworden. Euer Kampf spiegelt den Kampf des ganzen palästinensischen Volkes wider. Drei Züge unterscheiden den Kampf von Bilin, drei Eigenarten, die sich einander ergänzen und miteinander Bil?in so außerordentlich machen:
1.die Zähigkeit, die Ausdauer und der Mut des palästinensischen Kampfes,
2.die Partnerschaft mit dem israelischen Friedenslager,
3.die Unterstützung der Solidaritätsbewegung in aller Welt ;
zu all diesem kommt noch ein anderer Wesenszug, der Bil?in zu einem leuchtenden Beispiel macht: die vollständige Gewaltlosigkeit des Kampfes.
Vor ein paar Tagen besuchte der Dalai Lama dieses Land. Er traf berühmte Leute und nahm an diversen Feierlichkeiten statt. Es wurden auch Photos mit ihm aufgenommen. Ich hätte ihm gern den Rat gegeben, nach Bil?in zu kommen, um hier eine Lektion über Gewaltlosigkeit zu erhalten.
WENN WIR versuchen, den Kampf zu analysieren, müssen wir immer auf seine Ursprünge zurückkommen. In diesem Land leben zwei Völker, zwei Nationen. Das Ziel unserer Bemühungen ist, Frieden zu schaffen, der sich auf Gerechtigkeit gründet.
Der israelisch-palästinensische Konflikt sieht keinem anderen Konflikt der Welt ähnlich. Er ist keine Kopie der südafrikanischen Auseinandersetzung oder eine 2. Ausgabe des algerischen Befreiungskampfes. Dies ist ein einmaliger Konflikt, der einzigartigen Umständen sein Entstehen verdankt.
Ein berühmter Historiker beschrieb dies folgendermaßen: Eine Person lebt in der oberen Etage eines Gebäudes, in der ein Feuer ausgebrochen ist. Um sein Leben zu retten, springt er aus dem Fenster und landet auf einem zufällig Vorbeikommenden, der dabei schwer verletzt wird. Zwischen diesen beiden entwickelt sich eine Todfeindschaft.
Wer hat recht? Die Person, die aus dem Fenster sprang, um ihr Leben zu retten? Oder die andere Person, die verletzt und ruiniert wurde, ohne schuldig zu sein?
Die Zionistische Bewegung ist entstanden, weil Europa schon fünfzig Jahre vor dem Holocaust für Juden zur Hölle geworden war, dem schrecklichen Holocaust, der Millionen Juden das Leben kostete und in dessen Folge der Staat Israel gegründet worden war. Die ersten Zionisten glaubten, dass das Land leer sei. Ihr Hauptslogan hieß: ?Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.? Als die Zionisten entdeckten, dass es in diesem Land schon eine Bevölkerung gab, versuchten sie, sie hinauszustoßen. Diese Bemühung setzt sich bis heute fort ? und so auch der hartnäckige Kampf des palästinensischen Volkes für seine Existenz und seinen Boden.
Das ist die Realität des Konfliktes ? zwei Völker leben im selben Land und kämpfen gegen einander. Der Kampf von Bil?in gegen die Mauer, die sein Land raubt, ist ein Teil dieses historischen Konfliktes.
VOR ZWEIUNDDREISSIG Jahren, direkt nach dem Yom Kippur-Krieg ? oder dem Ramadankrieg ? zog Yasser Arafat eine Schlussfolgerung : es gibt keine militärische Lösung dieses Konfliktes. Er beschloss, eine politische Lösung zu finden.
Eine kleine Gruppe von israelischen Friedensaktivisten entschied sich, sich dieser Initiative anzuschließen. Wir gründeten den ?Israelischen Rat für israelisch-palästinensischen Frieden?. Arafat instruierte seine Gesandten, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Zuerst war es Said Hamami, dann Issam Sartawi, zwei ranghohe Fatahführer. Beide wurden später von Feinden des Friedens und Feinden Arafats umgebracht. Möge ihr Andenken unvergessen sein!
!982, in der Mitte des Libanonkrieges, überquerte ich die Frontlinien und traf mich mit Arafat im belagerten Beirut. In der Mitte der Schlacht, inmitten von Bombardements, sprach Arafat über Frieden zwischen unsern beiden Völkern.
Schon damals legte Arafat die Grundlage für eine Strategie nach drei Prinzipien: den Kampf des palästinensischen Volkes durchzuhalten, die Hand dem israelischen Friedenslager entgegenzustrecken und um internationale Solidarität aufzurufen. Genau dies sind auch die drei Prinzipien von Bil?in.
MAN MAG fragen ? tatsächlich muss man fragen: was hat das israelische Friedenslager bis jetzt erreicht?
Oberflächlich betrachtet ? nichts. Im Gegenteil, seit dem Oslo-Abkommen ist die Situation der Palästinenser von Jahr zu Jahr schlimmer geworden. Das wirtschaftliche Elend verschlimmerte sich weiter. Täglich werden Menschen getötet. Der Bau der monströsen Mauer geht weiter. Die rassistischen Siedlungen breiten sich immer weiter aus. Eben erfuhren wir, dass das Jordantal ? ein Drittel der Westbank ? von den palästinensischen Gebieten abgeschnitten und praktisch von Israel annektiert werden soll. Der Sieg von Hamas bei den palästinensischen Wahlen ist eine der Folgen davon.
All dies geschieht deutlich vor unser aller Augen. Aber unter der Oberfläche wirkt ein entgegengesetzter Prozess.
Vor 50 Jahren hatte nur eine Hand voll Leute in Israel und aller Welt die Existenz des palästinensischen Volkes anerkannt. Sogar noch vor 32 Jahren behauptete Golda Meir: ?Es so etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es gar nicht?. Heutzutage gibt es in Israel und der Welt keine vernünftige Person, die die Existenz des palästinensischen Volkes und seine Rechte auf einen eigenen Staat leugnet. Das ist der Sieg des hartnäckigen palästinensischen Kampfes, aber auch der israelischen Friedensbewegung.
Vor zwanzig Jahren, als wir forderten, Verhandlungen mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation zu beginnen, waren wir eine kleine Gruppe. Uns wurde gesagt, dass Arafat ein Mörder, dass die PLO eine terroristische Organisation sei, dass die Palästinensische Charta zur Zerstörung Israels aufrufe. Genau dieselben Phrasen werden jetzt für Hamas benützt. Aber einige Jahre später erkannte der Staat Israel die PLO an, verhandelte mit ihr und unterzeichnete Abkommen mit ihr. Das war der Sieg des hartnäckigen palästinensischen Kampfes, aber auch ein Sieg für die israelische Friedensbewegung .
LIEBE FREUNDE, es ist sehr leicht zu verzweifeln. Jeder von uns hat Momente der Niedergeschlagenheit. Aber ich bin davon überzeugt, dass es zum Frieden kommen, dass Gerechtigkeit gewinnen wird.
Vor ein paar Wochen war ich in Berlin. Dort werden in Läden Stücke der Berliner Mauer zum Verkauf angeboten. Ich bezahlte 2,50 Euro für ein solches Stück. Der Tag wird kommen, wenn auch hier in Bil?in, im freien Staat Palästina, Stücke der Mauer verkauft werden, gegen die wir heute kämpfen.
Jedes Mal, wenn ich in Bil?in oder an anderen Orten im besetzten Palästina bin, geht mir ein Gedanke durch den Kopf : Was dieses Land doch für ein Paradies sein könnte, wenn hier Frieden wäre, Frieden, der sich auf Gerechtigkeit und gegenseitiger Achtung gründet.
Dieser Frieden wird kommen. Und wenn er kommt, wird auch der letzte Wunsch Yasser Arafats, dessen Bild hier hängt, in Erfüllung gehen: seine sterblichen Überreste werden in Jerusalem ihre letzte Ruhe finden.
Es gibt keine Lösung des palästinensischen Problems außer durch den Heiligen Krieg. Initiativen, Vorschläge und internationale Konferenzen sind reine Zeitverschwendung. (...) Den Kreis des Widerstandskampfes gegen den Zionismus zu verlassen, ist Hochverrat, und verflucht sei, wer dies tut. (...) Der jüngste Tag wird nicht kommen, bevor Muslime Juden bekämpfen (und töten); bis die Juden sich hinter Felsen und Bäumen verstecken, die rufen werden: Oh Muslim! Da versteckt sich ein Jude hinter mir, komm her und töte ihn! (...) Hamas sieht sich als Speerspitze des Kampfes gegen den Welt- Zionismus. Es sind mehr Schritte von arabischen und islamischen Völkern und islamischen Gruppen in der arabischen Welt notwendig, um die nächste Runde im Kampf gegen die kriegstreiberischen Juden zu ermöglichen."
von Shulamit Aloni
Ha'aretz
Der Staat Israel ist der stärkste Staat der Region: militärisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell. Er erfreut sich weit reichender Unterstützung von Seiten der USA und der europäischen Länder. Er hat friedliche Beziehungen zu Ägypten und Jordanien. Wir könnten sogar ein Friedensabkommen mit dem Libanon und Syrien erreicht haben, wenn wir es gewollt hätten ? aus dieser Richtung kommt also keinerlei Bedrohung.
Aber Benjamin Netanyahu bedroht uns, ?sie wollen uns ins Meer treiben.? Wer? Die Palästinenser? Sagen wir mal, sie würden es wollen ? könnten sie es denn? Netanyahu und seine Unterstützer auf dem rechten und auf dem extrem rechten Flügel wollen uns Angst einjagen, damit sie weiter palästinensisches Land wegfressen können, bis alles unser ist. Dies ist die Doktrin des rechten Flügels.
Aber noch beunruhigender sind ? in Wort und Tat ? unsere Generäle, die im aktiven Dienst und jene, die es einmal waren: Moshe Ya?alon und Shaul Mofaz. Sie ordnen eine Strategie der Macht und noch mehr Macht an - von heute bis in alle Ewigkeit. Sie warnen vor einer bedrohlichen Zukunft in Jordanien und Ägypten. Sie provozieren mit aggressiven Akten gegenüber dem Land der West Bank und machen mit dem Töten weiter, ruinieren und morden unschuldige Menschen, (ohne dass diese ?tickende Zeitbomben? wären). All dies, um sicher zu gehen, dass es genügend Aktion und Risiko gibt, damit der Armee ein größeres Budget gegeben wird, dass die Waffenindustrie gedeiht, der Handel zunimmt und wir weiter unsere Helden anbeten, die für unsere Sicherheit ihr Leben geopfert haben.
Jeder Einfaltspinsel weiß, dass es für Israel keine existenzielle Bedrohung gibt. Jeder vernünftige Mensch versteht, dass die übertriebenen Operationen des israelischen Militärs gegen die Palästinenser nur Hass, Zorn, Fanatismus und Rachegefühle wecken. Die Bemerkungen der Generäle, die nicht versehentlich herausrutschten, sondern absichtlich gemacht wurden, wollen weiterhin unsere Angst schüren und uns erlauben, mit dem Töten, Zerstören, Vertreiben, mit den Straßensperren und Apartheidstraßen fortzufahren. Neue Schläge werden ausgeteilt, angeregt durch die lebendige Phantasie unserer Generäle.
Als der letzte Generalstabschef ? derjenige, der gegen den Rückzug aus dem Libanon und aus dem Gazastreifen war und der mehr Häuser zerstörte und alles, was ihm im Wege stand - sich auch der Gruppe derjenigen anschloss, die das Jüngste Gericht ankündigten und Angstgerüchte verbreiteten, erinnerte mich das an die Rede des US-Generals und Präsidenten Dwight Eisenhower. Bei seiner Abschiedsrede an sein Volk (1961) ? nach 8 Jahren Präsidentschaft ? warnte er vor zu engen Verbindungen zwischen der Armee und der riesigen Rüstungsindustrie. (In Israel ist diese Industrie, der Verkauf und Handel eng mit einander verbunden). Der große Einfluss dieser Industrie auf alle Lebensbereiche kann zur überflüssigen und gefährlichen Anwendung unnötiger Gewalt führen. In seiner Rede konzentrierte sich Eisenhower auf die Notwendigkeit, Demokratie und Versöhnung zwischen den Völkern zu stärken, Kriege zu verhindern und die Prioritäten bei der Aufteilung von Arbeitsleistung und Produktion zu verändern. Militär und Rüstungsindustrie sind stark und einflussreich, sagte er, und deshalb muss dieser Einfluss gebremst werden. Man müsste sich um Frieden, Versöhnung, Freiheit und die Menschenrechte bemühen.
Wie recht er hatte, wurden den USA erst klar, als es zu spät war, als sie mitten im Sumpf des Vietnamkrieges steckten und den Kalten Krieg ?kultivierten?. In Israel wurde das Militär bei der Errichtung des Staates zur Heiligen Kuh. Und heute sind die obersten Ränge der Armee sehr mächtig. Die IDF ist ein Eroberer mit sehr leichtem Finger am Abzug, jeder grüßt sie und jeder, der sie kritisiert, wird als schlechter Patriot bezeichnet. Diese Armee verachtet aber menschliches Leben und Besitz, macht sich über die anderen lustig und behandelt eine geschädigte Bevölkerung grausam. Es ist eine Armee, die ? um ?unserer Sicherheit? willen - jedes Dorf und jede Stadt in ein Gefängnislager verwandelte, obwohl sie gleichzeitig sehr wohl weiß, überfällt sie diese Orte, provoziert sie Reaktionen, die Israel teuer zu stehen kommen.
Was heute am meisten beunruhigt, ist die Vorsicht, mit der Leute aus der Friedensbewegung über Möglichkeiten der Versöhnung - selbst mit einer Hamasregierung - sprechen , damit sie nicht wegen fehlendem ?Nationalismus? angeklagt werden. Beunruhigend ist auch die angenommene Tatsache, dass Israel das palästinensische Geld zurückhält mit der Forderung, sämtliche Abkommen einzuhalten. Dabei ist es Israel, das als erstes die Abkommen verletzt.
Die voreilige Kritik, die Suche nach kollektiven Strafen und die schnelle Abschiebung der Palästinenser auf die Seite der muslimischen Länder, sind genau so eine Torheit, die gefährlich werden könnte. Anscheinend werden ?unsere weisen Männer? glücklich sein, wenn sich die muslimischen Länder noch einmal gegen uns wenden. Dann können wir uns noch einmal als das letzte Opfer der Welt sehen und dann ? ein Hoch auf die Armee und unsere Kriegsausrüstung! Danach wird es wieder viele festliche Gedenktage geben.
Aber so muss es nicht sein. Es könnte ganz anders sein. Es ist möglich, dass wir versuchen, uns zu versöhnen und zu verstehen versuchen, dass die Palästinenser auch das Recht auf einen eigenen Staat haben. Es sollte uns klar werden, dass wir jetzt eine rassistische, kolonialistische und verachtenswerte Politik treiben, die wir ( eigentlich) so nicht wollen. Allein wenn wir dies laut aussprechen, läuft es uns kalt den Rücken runter; denn wir dachten, wir Juden hätten humanitäre Werte und denken daran, dass jeder Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Wenn wir uns wirklich daran erinnern würden, mit unsern Aktionen aber gegen die Palästinenser so weiter machen wie bisher, werden wir schizophren.
Der amtierende israelische Ministerpräsident Olmert will innerhalb von vier Jahren einen auf einer einseitig festgelegten Grenzlinie einen Sperrwall zum Westjordanland errichten, sollten die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern scheitern. Alle jüdischen Siedlern würden in einem solchen Fall auf die israelische Seite umgesiedelt.
(ap) In einem Interview der israelischen Tageszeitung «Jediot Ahronot» vom Freitag sagte Olmert, in diesem Fall werde die Regierung in Jerusalem einseitig einen definitiven Grenzverlauf festlegen und alle jüdischen Siedler auf die israelische Seite umsiedeln.
Vom Sicherheitszaun zu definitivem Wall
Sollten sich die Palästinenser entscheiden, künftig der «Achse des Bösen» anzugehören, werde Israel den derzeitigen Verlauf des Sperrwalls ändern, wurde Olmert zitiert. Der Wall, der sich noch im Bau befindet, sei ein «Sicherheitszaun», betonte Olmert. Der neue werde dagegen die feste Grenze Israels zum Westjordanland darstellen.
Gegen Haltung der USA
Er werde bei Politikern im Ausland für seinen Plan werben, sagte Olmert weiter, und an erster Stelle mit Präsident Bush sprechen. Die USA lehnen einseitige Schritte Israels im Nahost-Konflikt ab. In dem Interview hatte Olmert seinen Plan zur einseitigen Festlegung der Landesgrenzen binnen vier Jahren bekräftigt und erklärt, er beabsichtige die komplette Abtrennung vom Grossteil der palästinensischen Bevölkerung.
Zu den Plänen gehört demnach auch der Bau einer umstrittenen Siedlung am Rande Jerusalems. Die Palästinenser kritisierten, dass damit ein Keil zwischen die Stadt und das Westjordanland getrieben und ihre Hoffnungen auf Jerusalem als Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staates zunichte gemacht würden.
NZZ 10.3.2006
von Uri Avnery
Und das große Spiel geht weiter
von Uri Avnery
uri-avnery.de / ZNet Deutschland 04.03.2006
?WENN MAN die Politik eines Landes verstehen will, dann sollte man sich die Landkarte ansehen!? riet Napoleon. Damit wollte er sagen: Regime kommen und gehen, Herrscher steigen und fallen, Ideologien blühen und vergehen ? aber die Geographie bleibt bestehen. Es ist die Geographie, die die grundlegenden Interessen eines jeden Staates entscheidet.
Vladimir Putin, Erbe der Zaren und Kommissare, schaute auf die Landkarte. Sah sie genau an, nahm den Telefonhörer in die Hand und lud die Hamasführer ein.
VOR HUNDERT Jahren war die Region zwischen Indien und der Türkei ein Schlachtfeld zwischen Russland und der wichtigsten westlichen Macht ? dem Britischen Empire. Abenteurer, Spione, Diplomaten und Intriganten aller Art durchstreiften das Gebiet. Dieser Wettstreit wurde als ?Das große Spiel? bekannt.
Mit der Zeit wechselten die Akteure. Die Bolschewisten nahmen den Platz der Zaren ein, das amerikanische Empire folgte dem britischen. Aber das große Spiel ging weiter.
Als die Sowjetunion zusammenbrach, schien es, als würde das Spiel zu Ende kommen. Der russische Einfluss verschwand aus der Region. Das Sowjetreich löste sich auf, und was übrig blieb, war zu schwach, zu arm, um sich an diesem Spiel zu beteiligen. Es hatte keine Jetons.
Und nun veränderte Putin alles mit einem Schlag. Die Hamas nach Moskau einzuladen, war ein genialer Schachzug: er kostete gar nichts und setzte Russland wieder zurück auf die Karte des Nahen Ostens. Während die ganze Welt vom Hamassieg noch verduzt und verwirrt war, benützte Putin nüchtern die Logik wie ein scharfes Skalpell und tat den ersten Zug eines neuen Spiels.
Auf diese Weise nützte der neue Zar aller Russen die Schwäche seiner Rivalen. Präsident Bush hat sich selbst in eine trostlose Situation gebracht. Als alle anderen Vorwände für seine blutigen irakischen Abenteuer sich in dünne Luft auflösten, hisste er eine neue Flagge: Demokratie für den Nahen Osten. Er drängte den Palästinensern neue Wahlen auf. In diesen Wahlen, den demokratischsten, die man sich vorstellen kann, waren die Sieger die Hamas.
Was sollte man nun tun? Erklären, demokratische Wahlen seien nur gut, wenn sie das Ergebnis liefern, das wir wünschen? Die Palästinensische Behörde boykottieren, die nun die ?Zweite Demokratie im Nahen Osten? ist ? Die Palästinenser verhungern lassen, bis sie die ?richtige? Führung gewählt haben?
Bush könnte natürlich die gewählte Hamas-Regierung anerkennen. Aber wie könnte er das tun? Schließlich haben die US Hamas auf ihre Liste der Terror-Organisationen gesetzt, nicht nur ihren militärischen Flügel, sondern die ganze Bewegung, einschließlich der Kindergärten und Moscheen. Nun sind sie gefangen im ?Zusammenstoß der Zivilisationen?, der apokalyptischen Schlacht zwischen dem Westen und dem Islam.
Nichts kann getan werden. Amerika ist wie ein Schachspieler, der sich in der Patt-Position befindet - unfähig, noch einen Zug zu machen.
Europa befindet sich in einer ähnlichen Situation. Wie ein psychisch Kranker in einer Zwangsjacke kann er seine Arme nicht bewegen. Es zog sich selbst diese Jacke an. Unter amerikanischem und israelischem Druck setzte es Hamas auf die Terroristenliste und verurteilte sich selbst zu völliger Unfähigkeit in der neuen Situation.
Putin lacht nicht oft. Aber jetzt erlaubt er sich ein leises Lächeln.
AUCH DIE Palästinenser sind ziemlich verwirrt. Bei diesen Wahlen haben sie sich selbst überrascht, sogar die Hamas.
Innerhalb der Fatah gibt es sich widersprechende Ansichten, was nun zu tun sei. Die Vernünftigen im palästinensischen Volk verlangen klar eine breite Koalition, die alle Parteien einschließt, um die Krisis zu überwinden und einen Boykott der Palästinensischen Behörde durch die Welt abzuwenden. Aber das Interesse der Fatah für die Partei sagt etwas anderes: Lasst uns Hamas zwingen, alleine zu regieren. Sie wird sich das Genick brechen, die Welt wird sie boykottieren. Nach ein oder zwei Jahren wird die palästinensische Öffentlichkeit Fatah an die Macht zurückholen.
Das ist Realpolitik, aber gefährlich. Während der ein oder zwei Jahre wird die israelische Regierung die Siedlungen erweitern, noch mehr Mauer bauen, die Grenzen festlegen, das Jordantal annektieren ? nur der Himmel ist die Grenze. Die Reaktion der palästinensischen Öffentlichkeit mag völlig anders sein als das, was sich Fatahleute vorstellen.
Hamas ist auch verblüfft. Ihr ist voll bewusst, dass die Wahlen weniger ein ideologischer Durchbruch war, sondern eine Protestwahl ? eher gegen die Fatah als für die Hamas. Nun muss Hamas das Herz des palästinensischen Volkes gewinnen ? und das Volk wünscht sich ein Ende der Besatzung und endlich Frieden.
Hamas will nicht, dass die Welt die Palästinensische Behörde ächtet und die Bevölkerung hungern lässt. Aber sie kann am Morgen des Sieges ihre Haut nicht plötzlich wechseln. Was würden die Palästinenser sagen, wenn sie auf einmal erklärt, sie sei bereit, Israels Existenzrecht, anzuerkennen, sich zu entwaffnen und ihre Charta für null und nichtig zu erklären? Das würde bedeuten, sie hätte ihre Seele dem Teufel verkauft, um die Bequemlichkeiten der Macht zu genießen. Das hieße, sie wäre so korrupt wie die Fatah.
Wenn Israel und Amerika wollten, die Hamas auf den Weg des Friedens zu führen, dann würden sie ihren Weg zum gewünschten Ziel erleichtern. Sie würden Wege finden , um das Geld, das den Palästinensern gehört, auch den Palästinensern zukommen zu lassen. Sie könnten mit einer Ankündigung zufrieden sein, dass die neue Regierung sich auf die Oslo-Abkommen gründen würde (was die Anerkennung Israels mit einschließt), ohne dass die Hamas ihr Gesicht verliert. Sie könnten mit dem Waffenstillstand für eine Übergangsperiode einverstanden sein und allen gewalttätigen Aktionen beider Seiten ein Ende bereiten. Hamas könnte dadurch entwaffnet werden, dass ihre Kämpfer in die offiziellen Sicherheitskräfte einbezogen werden. Und natürlich und am wichtigsten: Gefangene könnten entlassen werden.
Aber die gegenwärtige israelische Regierung zeigt kein Interesse, es Hamas leicht zu machen. Und wenn die israelische Regierung nicht daran interessiert ist, warum sollte ein amerikanischer Politiker etwas anderes sagen, wenn er nicht Selbstmord begehen will.
IN ISRAEL gab der Sieg der Hamas keinen Anlass zu Sorgen und Klagen. Im Gegenteil. Die israelischen Führer konnten sich nur schwer zurückhalten, auf der Straße zu tanzen.
Endlich ist vollkommen klar, dass es ?niemanden gibt, mit dem man verhandeln kann?. Wenn Yassir Arafat kein Partner war und Mahmoud Abbas auch nicht, so ist Hamas die Mutter aller Nicht-Partner. Keiner kann uns tadeln, wenn wir weiter ?gezielt töten?, die palästinensische Wirtschaft zerstören, Mauern bauen, das Gebiet der Westbank zerteilen, den Jordangraben abschneiden und im Grunde alles tun, was uns gefällt. Und wenn ? mit Gottes Hilfe - der palästinensische Terror wieder anfängt, können wir jedem erwidern: ?Das haben wir euch doch schon immer gesagt!?
Aber in Israel gab es auch eine Menge Verwirrung. Auf amerikanischen Druck hin war Ehud Olmert gezwungen, den Palästinensern wenigstens einmal die Steuern zu überweisen, die Israel für sie erhoben, aber einbehalten hat. Sofort wurde er angegriffen, er habe sich Hamas ?ergeben?. Selbst dieser kleine Akt, gestohlenes Geld zurückzugeben, hat einen politischen Sturm verursacht. Die in 24 Tagen stattfindenden israelischen Wahlen werfen ihre Schatten voraus.
Nun kommt Putins gewagter Schritt. Dieser macht es für die Hamasführung leichter, ihre Haltung zu mäßigen ? falls sie bereit ist, sich dem politischen Spiel anzuschließen. Er macht es auch der Regierung Israels leichter - falls sie Dialog und Frieden wünscht. Und vor allem kündigt er an, dass Russland sich wieder an dem ?Großen Spiel? beteiligt.
den satz sollten sich mal einige durch den kopf gehen lassen.
mfg ds
Gruß BarCode