" (...) Laut Statistik lebt die Mehrheit der Berliner nicht von eigenem Erwerbseinkommen, sondern von Transferleistungen des Staates. Zwar sind in dieser Aufstellung auch Pensionen berücksichtigt, doch gilt die deutsche Hauptstadt nicht eben als überaltert. Was also tun jene, die nicht, geografisch und sozial betrachtet, zur «neuen Mitte» zählen und – ohnehin häufig Zugereiste – in den zahlreichen Institutionen zwischen Friedrichstrasse und Reichstag tätig sind oder in den Hochhäusern am Potsdamer Platz ihren Karrieremittelpunkt haben? Oft in Teilzeit, verrichten sie, um nochmals Keller zu zitieren, «jene krabbelige Arbeit von tausend kleinen Dingen», deren Produkte bei Touristen offensichtlich beliebt sind und permanent Abnahme finden: von der nachgemachten sowjetischen Armeemütze über das samt Chauffeur zu mietende Velotaxi bis hin zur Wirtshaushockerei etwa im «Roses» in Kreuzberg, wo man über Berliner Pilsener – «für 'n Appel und 'n Ei» – Tage, ja Jahre seiner Existenz verbringen kann, hineingeknautscht in plüschige Sofas und grosse, aber gelassene Rede führend über all die «Projekte», die man anvisiere – unbedingt und irgendwann. (...) Entspann dich und sei wie wir, so die launige, dem Habitus des patzig-jovial regierenden Dorfschulzen Klaus Wowereit perfekt entsprechende Botschaft. Bierflasche in der Hand, enthemmter Frohsinn in den am Wochenende durchgängig geöffneten U- und S-Bahn-Stationen, dazu der Techno-Exzess-Tempel «Berghain» für die Club-People und für Geschichtsinteressierte aus aller Welt eine Visitemischung aus Brandenburger Tor, Holocaust-Mahnmal, Reichstagskuppel, Checkpoint Charlie, Philharmonie und Nofretete. – Wobei allerdings der Transport auch für Einheimische in der inzwischen als «Fluchhafen-Stadt» bespöttelten Metropole nicht ganz ohne ist: Die S-Bahn zuckelt nicht nur unpünktlich zum Rumpf-Airport Schönefeld, sondern fällt auch im innerstädtischen Bereich häufig aus"
Gastkommentar von Marko Martin, Schriftsteller |