Die bürgerliche Provokation


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62 Postings, 7455 Tage YankeeDie bürgerliche Provokation

 
  
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16.07.04 17:45
P H O B I E

Die bürgerliche Provokation

Warum Araber und Europäer Amerika hassen, beide auf ihre Weise - und doch aus ähnlichen Motiven. Eine Polemik

Von David Brooks (Aus dem Englischen von Karin Wördemann)

Etwa 1830 schaute sich eine Gruppe französischer Künstler und Intellektueller aufmerksam um und stellte fest, dass Leute die Welt am Laufen hielten, die ihnen geistig unterlegen waren. Ein Heer aus Kaufleuten, Managern und Geschäftsleuten verdiente eine Menge Geld, lebte in großen Häusern und besetzte Schlüsselpositionen. Sie verfügten weder über den gewählten Stil der Aristokratie noch über die bodenständige Integrität von Bauern. Sie waren lediglich gewöhnlich. Es handelte sich um vulgäre Materialisten, oberflächliche Konformisten und mit sich beschäftigte Kulturbanausen. Schlimmer noch, es war gerade ihre Mittelmäßigkeit, die sie erfolgreich machte. Durch irgendeinen Fehler im Schöpfungsplan hatte ihnen ihre Gier ungeheuren Reichtum, ungehemmten Machtzuwachs und soziales Ansehen eingebracht.

Künstler und Intellektuelle waren empört. Hass auf die Bourgeoisie wurde daraufhin zum "offiziellen" Gefühl der französischen Intelligenzija. Stendhal meinte, bei Händlern und Kaufleuten würde er am liebsten "gleichzeitig weinen und erbrechen". Flaubert schrieb, Hass auf die Bourgeoisie sei "aller Tugend Anfang". Er unterzeichnete seine Briefe mit "Bourgeoisophobus", der Bürgerfeind, um deutlich zu machen, wie sehr er die "dummen Kaufleute und ihresgleichen" verachtete.

Von allen großen Glaubensbekenntnissen des 19. Jahrhunderts ist die Bourgeoisophobie das einzige, das heute noch gedeiht. Der Marxismus ist tot. Der Freudianismus ist tot. Der Sozialdarwinismus mitsamt den Theorien der Rassereinheit ist tot. Nur die Gefühle und Überzeugungen, die Flaubert und Stendhal um 1830 bewegten, begleiten uns weiter, und zwar stärker denn je. Tatsächlich ist die Bourgeoisophobie mit ihrer Verbreitung bis Bagdad, Ramallah und Peking das reaktionärste Glaubensbekenntnis unserer Zeit.

Kampf dem satanischen Verderber

Zwei Völker, die Amerikaner und die Juden, erscheinen heute in den Augen der Welt als Musterbeispiele für unverdienten Erfolg. In dieser Sicht gleichen Amerikaner und Israelis geldsüchtigen Molochen, sie sind Sittenverderber, Kulturbanausen und Proselytenmacher götzenhafter Werte. In ihrer endlosen Gier nach mehr, heißt es, praktizieren diese beiden Nationen einen Eroberungskapitalismus. Sie überrennen ärmere Nationen und beuten schwächere Nachbarn aus. Und sie gedeihen gerade deshalb so prächtig, weil sie geistig verkümmert sind. Ihre Vergessenheit, was die heiligen Dinge im Leben angeht, ihre rastlose Energie, ihre Ungerechtigkeit und ihre schnöde Jagd nach Macht und Profit erlauben es ihnen, Vermögen aufzuhäufen, Waffen zu produzieren und Hypermacht der Welt zu spielen.

Genau wie die französischen Intellektuellen von 1830 voller Empörung Geschäftsleute oder Bankiers verachteten, gibt es auch heute Leute, die Amerika demütigen möchten und davon träumen, Amerika und Israel zu zerstören. Die heutigen Feinde der Bürgerlichkeit verzehren sich ebenso im Gefühl der unverdienten Unterlegenheit. Sie fühlen sich genauso erniedrigt, weil sie gegen die wachsende Macht ihrer Feinde nichts ausrichten können. Sie kochen vor Wut. Nur sind es jetzt nicht bloß Künstler und Intellektuelle, genauso können es heute Terroristen oder Selbstmordattentäter sein. Als Lehrer achten sie peinlich genau darauf, dass ihre Schüler nicht mit dem Wissen in Berührung kommen, das an bürgerlichen Schulen gelehrt wird. Es sind islamische Kleriker, die zu Hass und Gewalt aufstacheln. Es sind gebildete Europäer, die tief in ihrem Inneren wissen, dass Amerika und Israel über einen Heroismus und eine Lebenskraft verfügen, die ihre eigenen Nationen längst eingebüßt haben.

Heute formieren sich die Frontlinien neu. Der Streit um Palästina, früher einmal ein lokaler Territorialkonflikt, hat sich zu einem kulturellen Showdown hochgeschaukelt. Das breite Spektrum der Feinde der Bürgerlichkeit - Jassir Arafats Guerilla-Sozialisten, die islamischen Fundamentalisten der Hamas, die linken Globalisierungsgegner oder auch Amerikas antikoloniale Multikulturalisten -, sie alle konzentrieren ihren Zorn und ihre Gereiztheiten auf diesen einen Konflikt.

Gewiss, die Bourgeoisophoben haben kein Politbüro. Es gibt keine zentrale Führung und keine überzeugende Strategie. Sie haben nur ihre nihilistische Wut, ihren mit Snobismus untermischten Neid, ihre abfälligen Bemerkungen, ihre entstellenden Zeitungsartikel, ihre Verschwörungstheorien, im schlimmsten Fall ihre Selbstmordattentäter und Terrorangriffe - und vor allem ihren glühenden Wunsch, Amerika und Israel in den Staub zu zwingen.

Die Bourgeoisophobie ist in Wirklichkeit Hass auf den Erfolg. Ein ehrlicher Mensch wird den Erfolg eines anderen vielleicht einer überlegenen Arbeitsethik zuschreiben, einer größeren Selbstdisziplin oder auch nur dem Glück - nämlich zufällig mit den richtigen Fähigkeiten zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Ein normaler Mensch wird sich ein reiches und mächtiges Land erst einmal ansehen und versuchen, die Quellen seiner Vitalität ausfindig zu machen, dann seine Menschen und natürlichen Ressourcen einschätzen, seine Freiheiten, seine Institutionen und sozialen Normen beurteilen. Für den Bourgeoisophoben ist anderer Leute Erfolg niemals verdient. Für ihn kommt der Erfolg zu denen, die das Goldene Kalb anbeten, den Götzen, den satanischen Verderber, das Gold. Der vulgäre Materialismus korrumpiere nach Ansicht der Bourgeoisophoben aber nicht nur die Seele der Bürger, sondern drohe die gesamte Zivilisation zu schädigen. Glaubt man Karl Marx, dann zieht er alles Heilige in seinen profanen Strudel.

Brutalos oder Feingeister

Für den Feind der Bürger stellt sich also die Frage, wie man sich dieser Bedrohung erwehren könne. Und an dieser Frage spalten sich die Bürgerhasser in zwei Schulen. Die eine, man könnte sie die "brutalistische" nennen, will die rohe, maskuline Vitalität wiedergewinnen, die angeblich im Herzen der menschlichen Natur verschüttet liegt. "Wir brauchen keine Ideologen mehr", forderte Oswald Spengler, "wir brauchen Härte, wir brauchen furchtlosen Skeptizismus, wir brauchen eine Klasse sozialistischer Herrenmenschen." Das war der Pfad, der zu Mussolini, Hitler, Saddam Hussein und bin Laden leitete.

Die andere, man könnte sie die "ätherische" Schule nennen, glaubt, dass sich eine kreative Minderheit über das prosaische bürgerliche Leben hinwegheben könne, in ein Reich der Kontemplation, der Empfindung, Kunst, Sensibilität und der geistigen Würde. Die Ätherisch-Bourgeoisophoben sind seit jeher der Ansicht, Kulturen im Niedergang sollten nicht versuchen, ihre frühere Stärke wiederzugewinnen. Es sei weiser, den Niedergang der weltlichen Macht zu akzeptieren und sich kontemplative Tugenden zu Eigen zu machen. Der britische Historiker Arnold Toynbee zum Beispiel meinte, Europas virile, durchsetzungsfähige Zeit sei vergangen. Die Europäer müssten sich entscheiden: Geld für bequeme Wohlfahrtsstaaten oder für militaristische, kriegführende Staaten. Beides, so Toynbee, könnten sie sich nicht leisten. Er prognostizierte 1926, Europa würde sich für den Wohlfahrtsstaat entscheiden - und damit für ein Dasein im Schatten der transatlantischen Welt.

Der Horrortrip in die USA

Seit dem 11. September 2001 hat es viele Analysen gegeben, die nach den Ursprüngen des Zorns der Muslime suchten. Aber jedem, dem der Hass aufs Bürgerliche vertraut ist, fällt auf, wie sich die Wut der Muslime an die traditionelle Wut auf den meritokratischen Kapitalismus anschmiegt. Der islamistische Fanatiker und der Bourgeoisophobe hassen die gleichen Dinge und äußern den gleichen Protest. Avishai Margalit und Ian Buruma haben vor kurzem Merkmale aufgelistet, die sowohl al-Qaida als auch andere Antiamerikaner in der Dritten Welt einen (vgl. Merkur vom Mai 2002). Als Erstes hassen sie die Städte, die für Handel, gemischte Bevölkerung, künstlerische Freiheit und sexuelle Freizügigkeit stehen. Zweitens hassen sie die Massenmedien, Werbung, Fernsehen, Popmusik und Videos. Drittens hassen sie Wissenschaft und Technik - Fortschritt, Effizienz, Know-how. Viertens hassen sie das Bedürfnis, sicher zu leben, statt den Tod zu hofieren und heldenhaft mit der Gewalt zu flirten. Fünftens hassen sie die Freiheit, eine Freiheit, die auch den durchschnittlichen Menschen zugestanden wird. Und sechstens ist ihnen die Emanzipation der Frauen ein Gräuel: Denn die weibliche Emanzipation führt unweigerlich zu bourgeoiser Dekadenz. Wenn man diese sechs Merkmale zusammenführt, erhält man als Angriffsfläche genau die meritokratische kapitalistische Gesellschaft Amerikas und Israels.

Der Zorn der radikalen Muslime wird von zwei weiteren Leidenschaften genährt. Die eine drückt sich in sexuellem Schamgefühl aus. Der Initiationsritus für den Bourgeoisophoben ist als junger Mensch eine Reise nach Amerika oder in den Westen, wo er vom vulgären Hedonismus fast verführt wird, ihm dann aber doch heroisch widersteht. Die zweite Leidenschaft ist Erniedrigung. Diese kommt aus den sechziger und siebziger Jahren, als viele arabische und islamische Nationen versuchten, sich der bürgerlichen Welt anzuschließen. Sie wollten die Modernisierung - und scheiterten. Die islamistische Antwort auf Erniedrigung ist die Verehrung eines "muslimischen Gewaltmenschen". Die islamischen Extremisten pflegen eine Romantik des brutalen Kriegers. Sie verherrlichen die Gewalt und huldigen einem Kult des Selbstmordes und des Todes.

Mit den ätherischen Bourgeoisophoben Europas steht es ein wenig anders. Der französischen Philosoph Jean Baudrillard schrieb: "Amerika ist stark und ursprünglich; Amerika ist gewalttätig und verabscheuungswürdig. Wir sollten keinen dieser Aspekte leugnen und sie auch nicht versöhnen wollen." Die Europäer versuchen sie aber zu leugnen, weil sie nicht mehr wissen, wie es ist, imperiale Zuversicht zu spüren, kühne und sogar eschatologische Ziele zu haben. Ihre intellektuellen Wegführer haben ihnen beigebracht, dass Geschäftemachen unehrenhaft und Ehrgeiz vulgär sei. Die Geschichte hat sie dazu veranlasst, dem militärischen Heldenmut abzuschwören und ihren relativen Niedergang als ein Zeichen größerer Reife und Weisheit zu anzusehen.

Sie blicken verständnislos auf uns Amerikaner, wenn unsere politische Führung dem Terror und dem Bösen den globalen Krieg erklärt. Sie sehen in uns den Rambo, der seine Muskeln spielen lässt. Der möge sich doch besser vom nachdenklichen europäischen Staatsmann leiten lassen, der die unbeabsichtigten Folgen des politischen Handelns besser durchdenken könne. Außerdem, heißt es, erkenne der Amerikaner die tieferen Ursachen des Terrorismus nicht: die Armut, die Hoffnungslosigkeit. Zum Temperament des ätherischen Bourgeoisophoben passt die Diplomatie, denn sie ist formal, elitär, zivilisiert und vor allem komplex. Kurzum, gleich um welches Problem es sich handelt, die Bourgeoisophoben sind überzeugt, eine Lösung verlange Komplexität. Jeder entschiedene Versuch, den Status quo zu verändern - Saddam zu stürzen, Arafat fallen zu lassen, die Demokratie in der arabischen Welt anzuschieben -, werde die Lage nur schlimmer machen.

Natürlich haben wir Amerikaner auch unsere eigenen Bourgeoisophoben, solche, die den Kulturpessimismus in mannigfachen Varianten vertreten. Das Ganze läuft immer auf Vorahnungen eines Untergangs hinaus, was allerdings nach dem 11. September nicht mehr überzeugend wirkt. Die Ereignisse der letzten Monate wecken doch Zweifel am bourgeoisophoben Kulturpessimismus. Die Feuerwehrleute in New York verhielten sich nämlich wie Helden, obwohl sie in bürgerlichen Wohnungen leben, ihre Talkshows mögen, bei Wal-Mart einkaufen, MTV ansehen und gelegentlich den Playboy durchblättern. Nach den Ereignissen im September haben sich die Amerikaner eben nicht so rasch wie möglich in die Bequemlichkeit zurückgezogen. Präsident Bush hat die Herausforderung in ehrgeizigen Begriffen ausgedrückt: als moralische Konfrontation mit einer "Achse des Bösen". Er hat den mühseligsten Weg gewählt. Und das amerikanische Volk hat ihn unterstützt. Das ist gerade nicht die Reaktion eines dekadenten, vom Kommerz besessenen Volkes.

Die meisten Amerikaner sehen den Unterschied zwischen nihilistischem Terrorismus und einer Demokratie, die versucht, sich angemessen zu verteidigen. Und sie sind offenbar bereit, für die Prinzipien zu streiten, die hier auf dem Spiel stehen. George W. Bush spiegelt hier, wie in vielem anderen, die meritokratisch-kapitalistische Kultur, deren Produkt er ist. Während die restliche Welt in einem moralischen Nebel stochert und unaufhörlich von der "Gewaltspirale" redet, als ob sich Bomben selbst in Gang setzten, hat sich die Regierung Bush im Großen und Ganzen klar geäußert.

In diesen und anderen Aspekten zeigten sich politische Führung und Volk eigensinnig und unbeirrt. So wie die Amerikaner fast ein Jahrhundert lang geduldig im Kampf gegen Faschismus und Kommunismus durchhielten, werden sie den Konflikt gegen den Terrorismus durchstehen, der im Grunde genommen ein Kampf gegen Verächter unserer Lebensweise ist. Vielleicht waren die Bourgeoisophoben ja von Anfang an im historischen Unrecht. Wie erklärt sich sonst die Tatsache, dass sich fast alle ihre Voraussagen als falsch erwiesen haben? Amerika soll seit zwei Jahrhunderten am Rande des Zusammenbruchs sein. Es ist aber nicht zusammengebrochen. Der Kapitalismus soll seit zwei Jahrhunderten in der Krise sein. Er ist ihr aber nie zum Opfer gefallen.

Cowboys: Ehrlich, aber einfach

Vielleicht werden nach dem 11. September mehr Amerikaner zu der Ansicht kommen, dass es richtig ist, so zu leben, wie wir leben, und so zu sein, wie wir sind. Vielleicht sollten wir anerkennen, dass der amerikanische Lebensstil nicht nur erfolgreich, sondern auch charakterbildend ist. Er impft Tugenden ein, die für Amerikas Erfolg verantwortlich sind: eine gewisse Fähigkeit, Probleme klar zu sehen, auf Rückschläge energisch zu reagieren, die wesentlichen Aufgaben zu Ende zu bringen, Gewalt anzuwenden, ohne der Barbarei zu verfallen.

Auffallend ist jedoch, dass uns die Bourgeoisophoben trotz ihrer Verachtung nicht ignorieren können. Sie können uns Amerikaner nicht abtun und ungerührt weiterleben. Für die gesamte arabische und einen Großteil der übrigen Welt ist Israel geradezu eine Obsession. Viele Völker in vielen Ländern definieren sich im Gegensatz zu den USA. In ihrem Innersten wissen sie, dass wir eine beeindruckende Vitalität besitzen. Die Europäer betrachten uns als simple Cowboys, und hinterrücks gilt ihre Anerkennung doch dem Pioniergeist Amerikas - dem kühnen Geist, den sie in der Bequemlichkeit ihrer Wohlfahrtsstaaten vermissen lassen. Die islamischen Extremisten betrachten uns als laszive Hedonisten, und auf doppelbödige Weise anerkennen sie sowohl unsere Freiheit als auch unser Glück.

Möglicherweise können wir unsere Stärken in ihrem Hass besser erkennen. Denn wenn die Wogen des Konflikts höher schlagen, sollten wir nicht zuletzt uns selbst sagen können, wer wir sind, warum wir solche Leidenschaften erregen und warum wir völlig im Recht sind, wenn wir uns verteidigen.

David Brooks ist leitender Redakteur des "Weekly Standard". Seine Artikel erscheinen u. a. in der "New York Times", der "Washington Post" oder im "New Yorker". Brooks' letztes auf Deutsch erschienene Buch trägt den Titel "Die Bobos. Der Lebensstil der neuen Elite", Ullstein Verlag Berlin

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(c) DIE ZEIT   27/2002  


 

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