Heftiger Streit über EU-Beitritt der Türkei
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Eröffnet am: | 05.12.02 14:05 | von: der hundeso. | Anzahl Beiträge: | 6 |
Neuester Beitrag: | 05.12.02 14:20 | von: Sahne | Leser gesamt: | 2.075 |
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Die Bundesregierung will der Türkei weiterhin die Tür zur Europäischen Union offen halten. In einer hitzig geführten Bundestagsdebatte wiesen Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer die Forderung der Union zurück, der Türkei den EU-Beitritt zu verweigern.
Berlin - Schröder bekräftigte die Haltung der Regierung, der Türkei auf dem EU-Gipfel kommende Woche in Kopenhagen eine Perspektive für die EU-Mitgliedschaft zu eröffnen. Entscheidend sei, das Land noch stärker an den Westen anzubinden, damit es "nicht abdriftet in den islamischen Fundamentalismus".
Schröder wollte das Thema am Mittwochabend mit Frankreichs Präsidenten Jacques Chirac beraten. Beide treffen sich im brandenburgischen Storkow, um eine gemeinsame Position für Kopenhagen festzulegen. Geplant ist, der Türkei zumindest ein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen zu nennen.
Kritik an Forderungen von CDU und CSU
Scharf kritisierte Schröder einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion, in dem gefordert wird, in Kopenhagen auf jede Festlegung in Bezug auf einen EU-Beitritt der Türkei zu verzichten. Der Kanzler warnte den hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU), den Konflikt zu einem "billigen Wahlkampfthema" zu machen. In Hessen wird am 2. Februar ein neuer Landtag gewählt. Der Union gehe es offenkundig darum, "ein Feuerchen anzumachen". Schröder forderte, in Kopenhagen einen historischen Beschluss zur EU-Erweiterung zu fassen, der Deutschland allerdings finanziell nicht überfordern dürfe.
Fischer bezeichnete eine europäische Perspektive für die Türkei als Teil des Kampfes gegen internationalen Terrorismus. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington sei die Ostgrenze der EU mit anderen Augen zu sehen, weil aus der Nahost-Region potenzielle Bedrohungen für Europa kämen, sagte der Außenminister im Bundestag. Daher sei es von entscheidender Bedeutung, der Türkei eine europäische Perspektive zu eröffnen.
"Es wird entscheidend sein, ob ein islamisches Land den Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft gehen kann oder nicht", sagte Fischer. "Wenn es der Türkei gelingt, wird das der größte Erfolg im Kampf gegen internationalen Terrorismus sein."
Der Außenexperte der Unions-Fraktion, Wolfgang Schäuble (CDU), bezeichnete es als fraglich, ob die Türkei mit den Vorstellungen der EU von ihrer eigenen Identität übereinstimme. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos sagte: "Die Türkei ist weder ökonomisch noch politisch reif für einen Beitritt in die Europäische Union." Eine geographisch grenzenlose Erweiterung mache das Projekt Europa kaputt. Schröder hielt Glos dagegen frühere Plädoyers der Union für eine Aufnahme der Türkei vor.
Fischer wies Vorwürfe der Union zurück, die Regierung setze sich deshalb besonders für die Türkei ein, um damit die wegen der Irak-Frage belasteten Beziehungen zu den USA zu verbessern. Die USA drängen auf eine schnelle Aufnahme der Türkei in die EU, weil sie dem Land besondere strategische Bedeutung beimessen. Fischer sagte, Deutschland und die EU würden eine solche Entscheidung aus sich selbst heraus begründet und nicht als Gefallen gegenüber einem Dritten treffen.
In ihrem Bemühen um einen Termin für Beitrittsgespräche mit der EU sucht die Türkei unterdessen die Unterstützung der USA. Der Mehrheitsführer Tayyip Erdogan werde in der kommenden Woche noch vor dem EU-Gipfeltreffen in Kopenhagen mit US-Präsident George W. Bush in Washington zusammentreffen, teilte seine Partei am Mittwoch mit. Der Anführer der "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) kann auf Grund einer Vorstrafe nicht Ministerpräsident seines Landes werden.
Das Nato-Mitglied Türkei dringt auf ein Datum für den Beginn von Gesprächen über seinen Beitritt zur EU. Um der Kritik europäischer Mitgliedstaaten an der Menschenrechtslage in der Türkei zu begegnen, hat die Regierung zahlreiche Reformen eingeleitet. Der Beginn der Gespräche hängt auch von einer Einigung mit Griechenland über den Status der geteilten Mittelmeerinsel Zypern ab.
Die USA haben die EU dazu ermutigt, der Türkei ein Paket anzubieten, das demokratische Reformen in dem Land fördern und es auf den Weg zum EU-Beitritt führen könnte. Bei einem von den USA geführten Krieg gegen Irak könnte der Türkei eine wichtige Rolle zukommen.
Weil die USA von der Türkei aus in den Irak schießen will - soll Europa irgendwo enden?
Langsam glaube ich, die ganze Welt wird verrückt! - Kritiker.
www.regierungssturz.de
Das Thema wird sonst vorwiegend von Fachpolitikern verhandelt: über wie viele Stufen und Jahre sollten sich die Gespräche der EU über einen möglichen Beitritt der Türkei erstrecken? Gestern war der CDU/CSU-Fraktion die Frage so wichtig, dass sie dazu trotz Haushaltsdebatte einen Antrag in den Bundestag einbrachte. Die Kernforderung von CDU und CSU: Die EU müsse sich "Klarheit über ihre Grenzen verschaffen" - und dürfe der Türkei allenfalls eine Partnerschaft, nicht aber die Mitgliedschaft anbieten. Auch Gerhard Schröder nahm die Türkei gestern so ernst, dass er umfänglich präpariert im Plenum erschien.
Drei Dokumente zog der Bundeskanzler in der Debatte hervor, eine Kohl-Äußerung von 1997, einen Welt-Artikel von CSU-Frontmann Michael Glos aus demselben Jahr sowie eine Pressemitteilung der CSU-Landesgruppe von 1995. Der Tenor war dreimal der gleiche: Die EU müsse der Türkei die Perspektive eines Beitritts anbieten. Das stand zum Vergnügen der Zuhörer auf den Bänken von SPD und Grünen in erkennbarem Widerspruch zu der Rede, die Glos unmittelbar vor Schröder gehalten hatte. "Die Türkei ist weder politisch noch ökonomisch reif für einen Beitritt", hatte der CSU-Landesgruppenchef da erklärt, ein "Blankoscheck für die Vollmitgliedschaft der Türkei" würde die EU und Deutschland "teuer zu stehen kommen". Im übrigen gehöre die Türkei nicht zum europäischen Kulturkreis.
Schröder setzt dagegen darauf, der Türkei auf dem EU-Gipfel kommende Woche in Kopenhagen ein "Datum für ein Datum" zu nennen, also einen Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Auch wenn der Kanzler den Plan gestern Abend in Brandenburg mit dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac besprechen wollte, ging es ihm im Bundestag nur bedingt um Außenpolitik.
Die SPD glaubt, dass die Union über den Umweg einer außenpolitischen Frage das Ausländerthema reaktivieren will. CDU-Recke Roland Koch hatte 1999 mit der Anti-Doppelpass-Kampagne Rot-Grün von der Regierung in Hessen vertrieben - und am 2. Februar möchte Koch wiedergewählt werden.
"Sie setzen sich dem Verdacht aus, Ihrem Kollegen in Hessen ein billiges Wahlkampfmanöver verschaffen zu wollen", warf Schröder darum der versammelten CDU/CSU-Fraktion vor. "Das hat mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun!", gab die CDU-Hauptrednerin Angela Merkel prompt zurück.
Doch bei der SPD ist man unbeeindruckt - hier traut man inzwischen Roland Koch so gut wie alles Schlimme zu. Zugleich zimmern die Herren Schröder, Müntefering und Verbündete eifrig an der Unterstellung, Angela Merkel sei als Parteivorsitzende von den mächtigen Männern in CDU und CSU umzingelt. Da kommt es der SPD gerade recht, dass selbst in der Union nicht mehr ernsthaft bestritten wird, wer der Urheber des Lügen-Untersuchungsausschusses war: nicht Merkel, sondern Koch.
"Es gibt auch wegen der Türkei eine Absprache zwischen Koch und Stoiber", meint ein führender Genosse zu wissen. Auch wer den Angreifer geben soll, wollen Sozialdemokraten schon herausgefunden haben: Günter Beckstein, Innenminister im Kabinett Stoiber und im zurückliegenden Bundestagswahlkampf dessen zuverlässigster Wadlbeißer. Gab es denn eine Absprache, so hätte Stoiber seinen Teil bereits erfüllt: Der CSU-Parteitag beschloss vor 14 Tagen die Ablehnung des türkischen EU-Beitritts. PATRIK SCHWARZ