FTD ist sich nicht so einig, gestern Schwarz/Grün
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Eröffnet am: | 17.09.02 22:41 | von: magnum | Anzahl Beiträge: | 4 |
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Aus der FTD vom 17.9.2002
Kommentar: Eine zweite Chance für Rot-Grün
Von Thomas Hanke, Thomas Fricke und Peter Ehrlich
Am Montag hat die FTD eine Wahlempfehlung veröffentlicht. Heute bringen wir einen Kommentar dreier leitender Redakteure des Politikressorts in Berlin.
Vier Jahre nach dem Antritt von Gerhard Schröder muss die Regierung um die Wiederwahl bangen. Die wirtschaftspolitische Bilanz enttäuscht, in den nächsten vier Jahren sind dringend politische Kurskorrekturen und Reformen nötig. Daran bestehen kaum Zweifel. Trotzdem ist fraglich, ob ein Regierungswechsel nach den Wahlen am Sonntag die Bedingungen dafür verbessern würde.
Eine Koalition unter Führung der Union würde die großen Probleme des Landes nicht rascher lösen - gerade wenn es um Wirtschaft und Arbeitsmarkt geht. Die heutige Opposition erscheint vier Jahre nach Ende der Kohl-Ära weder hinreichend erneuert noch konzeptionell gerüstet, um Deutschland die nötigen Impulse zu geben.
Schröders Versäumnisse
Zu den rot-grünen Minuspunkten zählt ohne Zweifel, dass die Regierung nach einem erfolgreichen Jahr 2000 völlig falsch und naiv auf den konjunkturellen Abschwung reagiert hat. Statt die konjunkturbedingt höheren Staatsdefizite hinzunehmen, hat sie mehrfach Steuern angehoben und Ausgaben gekürzt, was nach aller ökonomischer Erfahrung kontraproduktiv wirkt.
Wenig souverän wirkte auch das, was der Bundeskanzler seit Jahresanfang in Sachen Arbeitsmarktreform geleistet hat. Schröder reagierte erst, als die Arbeitslosigkeit über die Marke von vier Millionen Jobsuchenden gestiegen war. Die kurz vor der Wahl vorgelegten Vorschläge der Hartz-Kommission zielen reichlich spät auf eine bessere Vermittlung und mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt.
Zu einer fairen Bilanz gehört aber auch die Erinnerung daran, dass noch bis vor gut einem Jahr viele der heute sehr kritischen Ökonomen und Industrievertreter noch höchstes Lob für den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung hatten. Vor allem dafür, dass Rot-Grün gegen den Widerstand der Gewerkschaften den Einstieg in die kapitalgedeckte Altersversorgung überhaupt erst wagte; die Union hatte versucht, die Rentner gegen diese Reform zu mobilisieren. Lob gab es auch für die Steuerreform. Auch sie musste gegen den Widerstand der Union durchgesetzt werden. Und als fast durchweg positiv galten die drastischen Einschnitte in den Staatshaushalt, die Finanzminister Hans Eichel durchboxte. Unter Rot-Grün wurde das Rabattgesetz liberalisiert und die Vermittlung von Zeitarbeitern erleichtert.
Wenn nur einigermaßen sicher wäre, dass die Union all dieses viel besser machen würde, wäre die Wahlentscheidung klar. Genau das ist aber nicht der Fall.
Zwar präsentiert Edmund Stoiber in seinem Sofortprogramm eine ganze Reihe Ideen, die ökonomisch erst einmal sinnvoll erscheinen, wie etwa die umfangreichere Subventionierung des Niedriglohnsektors oder eine leichte Lockerung des Kündigungsschutzes. Bei näherem Hinsehen drängt sich aber eher der Verdacht auf, dass hinter dem Aktionsplan ein ökonomisch konfuses und finanziell gewagtes Sammelsurium an Vorschlägen steckt.
Versprechen kaum finanzierbar
Nach vorsichtigen Schätzungen von Bankenökonomen würde das Unionsprogramm bis 2006 zu einer Belastung des Staatshaushalts von mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts beitragen. Wenn nur ein Teil der Vorschläge durchkäme, würde der europäische Stabilitätspakt spätestens nach ein paar Wochen gesprengt, ohne dass die Union eine Alternative präsentieren kann. Im Gegenteil: Offiziell klammert sie sich an den Pakt.
Weil die Ausgabenexplosion ins Chaos zu führen droht, stellt sich die Frage, was von den vielen schönen, aber teuren Vorschlägen der Union tatsächlich umgesetzt würde. Das Risiko ist hoch, dass eine Unionsregierung umso planloser Ausgaben zu kürzen beginnt, je mehr die finanziellen Möglichkeiten hinter den milliardenschweren Versprechen zurückbleiben.
All dies wäre noch tragbar, wenn die Union eine Antwort darauf hätte, wie einer der größten Herausforderungen der nächsten Jahre für die deutsche Wirtschaft zu begegnen ist: dem absehbaren und drastischen Rückgang der Erwerbsbevölkerung. Wenn es nicht gelingt, diese demografische Entwicklung zumindest zu bremsen, werden selbst die besten Steuer- oder Arbeitsmarktreformen wenig helfen.
Das lässt sich aber nur erreichen, wenn mehr Menschen zuwandern und zugleich mehr Frauen als bislang Job und Familie vereinbaren können - genau das Gegenteil von dem, was die Union mit ihrem veralteten Konzept will. Sie mobilisiert gegen die Zuwanderung. Und die geplante Einführung eines Familiengeldes dürfte gerade nicht dazu führen, dass mehr Frauen arbeiten. Dafür ist mehr Ganztagsbetreuung von Kindern erforderlich, wie sie Rot-Grün jetzt anstrebt.
Edmund Stoiber ist nicht der bessere Wirtschaftspolitiker; mit seinen Erfahrungen als Ansiedlungspolitiker auf Landesebene würde er als Bundeskanzler genauso wenig anfangen können wie Schröder. Auch hat er bislang keine Entscheidungsfreudigkeit und Führungsfähigkeit gezeigt. Im Wahlkampf ist die Union zurückgefallen, weil Stoiber sich nicht dazu durchringen konnte, die Schröderschen Vorstöße in Sachen Fluthilfe oder Irak-Politik zu kontern.
Bessere Ausgangslage für Rot-Grün
Rot-Grün wird nach einem Wahlsieg Mut zu mehr Reformen brauchen. Und die Chancen dafür stehen womöglich besser als oft vermutet. Die Regierung hat nach dem Wahlsieg 1998 mit einem krausen Gemisch an Absichten begonnen: Reformen der Kohl-Ära sollten zurückgenommen, Forderungen der Gewerkschaften verwirklicht und Deutschland irgendwie modernisiert werden. Dieser Start war stark geprägt auch durch den damaligen Parteichef Oskar Lafontaine.
Die Koalitionsverhandlungen einer Regierung Schröder/Fischer II stünden unter günstigeren Umständen. Die Vorstellung, durch staatliche Eingriffe stets mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, ist mittlerweile auch in der SPD diskreditiert. Die Grünen haben sich in den vergangenen Jahren ohnehin als diejenigen erweisen, die unter dem Beifall überzeugter Wirtschaftsliberaler zu Reformen drängten.
Die Koalition wird kaum umhinkommen, weitere Reformen anzugehen: auf dem Arbeitsmarkt wie im Gesundheitswesen. Gerade in der Gesundheitspolitik könnte sich der Ansatz von SPD und Grünen als treffend erweisen, für mehr Effizienz in diesem Sektor zu sorgen; die Union setzt dagegen schlicht auf eine stärkere Belastung der Patienten.
Als reichlich illusionär erweist sich die simple Gleichung, wonach die Union immer auf die größere Liberalisierung setzt. Dafür ist auch die mögliche Öffnung des Handwerks für mehr Wettbewerb ein Beispiel. Von den Interessengruppen hartnäckig verteidigte Eintrittsbarrieren wie der große Befähigungsnachweis und die Handwerksrolle führen dazu, dass Zehntausenden Menschen die Möglichkeit verwehrt bleibt, sich selbstständig zu machen, und Kosten in die Höhe getrieben werden. Hier verweigert die Union jede Liberalisierung.
Wir glauben nicht, dass Mitte-links-Regierungen zwangsläufig bessere Chancen haben, eine Gesellschaft zu modernisieren als Mitte-rechts-Regierungen. In Europa gibt es allerdings zahlreiche Beispiele dafür: Schweden, die Niederlande, Frankreich und auch Spanien, das von Sozialisten auf den Kurs marktwirtschaftlicher Reformen gebracht wurde. Reformen im Konflikt durchzusetzen kann gut und notwendig sein. In den genannten Fällen hat es sich häufig als besser erwiesen, die Reformbereitschaft dadurch zu wecken, dass die Nützlichkeit von Veränderungen glaubhaft gemacht wurde.
Das ist Rot-Grün auch in der Außenpolitik gelungen. Deutschland hat sich erstmals an wichtigen internationalen Einsätzen beteiligt. Militärische Interventionen sind als Ultima Ratio nicht länger tabu.
Es ist bedenklich, auf welche Art und Weise Schröder jetzt die Irak-Politik der USA kritisiert. Nur ist es falsch, die Position an sich als allein wahlkampftaktisch einzustufen: Die Regierung hatte sie bereits im Herbst 2001 so formuliert.
Zeit für Reformen
Schröder und Fischer wissen, dass Europa stärker und einiger auftreten muss. Eindeutiger als die Union fordern sie, das Europäische Parlament und die Rolle des Kommissionspräsidenten zu stärken. Bei der Osterweiterung der EU hat Rot-Grün nicht gewackelt - anders als die Union, deren Führung mit populistischer Stimmungsmache geliebäugelt hat.
Die Wahl fällt schwer, schwerer womöglich als in den meisten vorangegangenen Fällen. In der Abwägung lässt sich die Hoffnung auf bessere Zeiten unter einer unionsgeführten Regierung allerdings nicht stichhaltig begründen. Die Union ist dabei, die Erstarrung der Kohl-Ära zu überwinden. Eine wirkliche personelle und konzeptionelle Alternative bietet sie heute aber noch nicht.
Das spricht dafür, auf einen Regierungswechsel 2002 zu verzichten und Rot-Grün eine zweite (und vielleicht letzte) Chance zu geben.