Noch mehr Steuern!
Kommentar
Von Nikolaus Blome
Gewurstel, dein Name sei Rot-Grün. Das tägliche Hin und Her der zweiten Regierung Schröder nimmt erratische Züge an. Zyniker würden sagen: Die Rot-Grünen haben keine Linie - und die wird jetzt auch noch verlassen.
Wohlgemerkt: Die Rücknahme einiger Knebelpläne bei der Besteuerung von Aktien- und Immobiliengeschäften ist richtig - weil es immer richtig ist, einen Fehler zu korrigieren. Aber warum werden die Fehler überhaupt erst gemacht? Was hat die jetzt aufbegehrenden Grünen bewogen, all diesen kruden Vorhaben während der Koalitionsverhandlungen noch zuzustimmen? Die Antwort kann nur sein: weil sie ihren inneren Kompass fürs Erste verloren haben. Weil sie sich ihrer zum Teil reformorientierten Abgrenzung zur Traditions-SPD erst erinnerten, als sie sich aus eigenem Versagen von Gerhard Schröder vorführen lassen mussten.
Bei Spekulationssteuer und möglicher Rentenreform hat der kleinere Koalitionspartner in wenigen Tagen zwar eineinhalb Punktsiege eingefahren. Wenn es in der Sache wirklich so kommt, macht sich das auf ihrem machtpolitischen Konto nicht schlecht, und mancher Anleger kann aufatmen. Aber mit solchen Hüpfspielchen lässt sich ein ganzes Land nicht aus der Krise führen. Denn sie kosten zugleich den letzten Rest von Glaubwürdigkeit, zum Beispiel bei der Europäischen Union: Der Finanzminister kriegt den "blauen Brief" ja nicht, weil sein Sparpaket in jedem Fall zu klein wäre - sondern weil niemand glaubt, dass selbst für Notoperationen politischer Mumm und Verstand derzeit reichen. Dieses Urteil ist vernichtend.
Den Autor erreichen Sie unter: blome@welt.de
Wie die Regierung uns bestiehlt
In Deutschland gibt es mehr Arbeitnehmer als Rentner. Noch. Auch in Hessen, auch in Niedersachsen, wo demnächst gewählt wird. Handelt es sich mithin um einen Akt politischen Selbstmords, wenn die rot-grüne Regierungsfraktion am Freitag entgegen allen Versprechen und Absprachen den Rentenbeitragssatz auf 19,5 Prozent des Bruttolohnes erhöht? Oder glaubt sie, der Begriff "Beitragsbemessungsgrenze" ist für Absolventen hessischer oder niedersächsischer Schulen viel zu lang, als daß ihnen auffallen würde, wenn diese Grenze nach oben verschoben wird?
Zählt man zu den Arbeitnehmern die Arbeitslosen hinzu, dann steht den Rentnern, deren Sonderinteressen so zu Staatsinteressen gemacht werden, eine noch größere Gruppe gegenüber, die unter der Verteuerung von Arbeit - im Abschwung! - leiden wird. Zusätzlich zu den Abgaben werden die Steuern angehoben, allerorten die Gebühren für staatliche Leistungen erhöht, die Neuverschuldung wird ausgeweitet, was einer Steuererhöhung von morgen entspricht. Der Glaube jener geschröpften Alterskohorten an zukünftige Gegenleistungen entsprechenden Umfanges ist längst verdampft. "Generationenvertrag" bedeutet inzwischen ungefähr dasselbe wie "Lüge". Nichts von dem, was jetzt eingezahlt wird, um den Rentnern ja nichts zuzumuten, wird den Einzahlern jemals vergolten werden. Um 1980 Geborene werden für einen Euro im besten Fall achtzig Cent Rente erhalten; wer Jahrgang 1930 ist und regelmäßig eingezahlt hat, erhält für einen Euro zwei. Zum entsprechenden Verlust an Vertrauen ganzer Generationen in den Sozialstaat kommt schließlich das ebenso berechtigte Mißtrauen in die Finanzmärkte, die soeben noch als "zweite Säule" der Alterssicherung empfohlen worden waren. Bilanzfälschung, Konkursverschleppung, betrügerischer Bankrott - die gesamte Terminologie des Wirtschaftsstrafrechts empfiehlt sich als Vokabular für staatswissenschaftliche Seminare und Übungen in vergleichender Regierungslehre.
Beispiellos ist diese Situation, weil in ihr Aufblähung und Ruin des Wohlfahrtsstaats zusammenfallen. Wie alle Staatsformen begründet sich auch seine Existenz nicht nur auf Zahlungsströmen und Machtverteilungen, sondern auf der Plausibilität der Programme, die sie steuern. Sie ist gerade dabei, zerstört zu werden. Denn wenn nur 1,4 Prozent aller mehr als Fünfundsechzigjährigen Sozialhilfe beanspruchen, wenn weder Beamte noch Selbständige in die Rentenkasse einzuzahlen haben, wenn für die jetzt Geschröpften ein Rentenzugangsalter von siebzig in den Blick genommen wird - dann ist das mit der Mär von der Altersarmut dekorierte Argument, es gehe hier um Gerechtigkeits- und Solidaritätsfragen, um die Abwehr sozialer Kälte und um einen Sozialstaat für die Schwachen, dann ist dies alles nur ein riesiger Intelligenztest, den die Regierung mit ihrem Volk veranstaltet.
Und doch gibt es in diesem Land kein Anzeichen für Steuerunruhen, wie sie im Mittelalter und der frühen Neuzeit bei ähnlichen Zumutungen aufflammten. Aller möglichen Themen haben sich soziale Bewegungen angenommen, aber Steuerverweigerungsaktivisten, die sich auf den Dächern von Finanzämtern oder an den Pforten von Bundesversicherungsanstalten anketten, sind bislang nicht gemeldet worden. Wir haben streng beobachtete Maßzahlen für den zulässigen Lärm an Fließbändern, Höchstmengen für den Anteil von Farbstoff in unseren Marmeladen, und wenn irgendwo ein Geigerzähler ausschlägt, setzen sich Leute auf Eisenbahnschienen. Aber wenn der Rentenbeitragssatz von 19,1 auf 19,3 und 19,5 Prozent ansteigt und es gar keinen Grund zur Annahme gibt, damit sei schon Schluß, dann kommt das soziale Grenzwertbewußtsein selber an eine Grenze.
Nach politökonomischer Lehre ist es am schwierigsten, den Widerstand gegen das zu organisieren, was alle schädigt. Kleine Gruppen bilden ihren Willen leichter, einigen sich auf die notwendigen Beiträge zu seiner Durchsetzung schneller als große. Darum sind die Belange der Konsumenten politisch so schwach vertreten und die der Bauern so gut, haben die Stromhersteller und die Zahnärzte eine so starke Lobby, die Steuerzahler aber eine so ohnmächtige. Doch im vorliegenden Fall erklärt diese Lehre zuwenig. Denn die Rentner obsiegen über die Arbeitnehmer wohl kaum aufgrund von Organisationsvorteilen älterer Bürger bei der Lobbyarbeit für ihre Sache. Auch die Rentner sind eine heterogene Großgruppe. Selbst der Hinweis, es seien ihre Sprachrohre in den Wohlfahrtsverwaltungen und den angeschlossenen Beratungs- und Betreuungsindustrien, die für den nötigen Druck sorgen, macht nicht einsichtig, weshalb Sozialdemokraten und die inzwischen vollends sozialdemokratisierten Grünen offenbar gewillt sind, den Leuten nur noch eine zynische Haltung zum Sozialstaat übrigzulassen.
Vielleicht muß neben politökonomische Erklärungen eine sozialpsychologische treten. Der programmatische Erschöpfungszustand der deutschen Parteien ist offenkundig. Das Wort "Zukunft" ist seit langem schon nur mehr eine Phrase zur Durchsetzung von ganz gegenwärtigen Aneignungsinteressen. Ferne Ziele, die den bürgerlichen Charakter einst entsagungsbereit sein ließen, werden für unwählbar gehalten. Das politische Vorstellungsvermögen ist auf den Augenblick geschrumpft. Kann es sein, daß die Politik sich in dieser Lage am besten in Personenkreise einfühlen kann, für die objektiv mehr endet als neu beginnt? Die mehr Vergangenheit als Zukunft haben? In Abwandlung einer berühmten finalen Geste, die einst den "Verfall einer Familie" besiegelte kann man über die Sozialpolitik der Regierungsparteien sagen: Sie denken, es komme nichts mehr.
JÜRGEN KAUBE
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2002, Nr. 265 / Seite 39
Mehr Geld für Zentralrat der Juden
Fast 60 Jahre nach dem Holocaust soll erstmals ein Staatsvertrag die Beziehungen zwischen dem Bund und dem Zentralrat der Juden in Deutschland regeln. Zudem hat die rot-grüne Bundesregierung die finanzielle Unterstützung für das wieder erwachte jüdische Leben in Deutschland deutlich angehoben.
DPA
Paul Spiegel nannte den Staatsvertrag ein historisches Ereignis
Berlin - Die Mittel für die Integrationsarbeit des Zentralrats der Juden in Deutschland werden auf drei Millionen Euro erhöht und damit verdreifacht. Als Grund nannte Bundeskanzler Gerhard Schröder nach einem Gespräch mit dem Präsidenten des Zentralrats, Paul Spiegel, die gestiegene Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinden. Spiegel nannte den Staatsvertrag ein historisches Ereignis.
Als Juden 1945 nach Deutschland zurückkehrten, hätten sie sich nicht vorstellen können, dass es jemals wieder in Deutschland aktives jüdisches Leben geben werde, sagte Spiegel. Nach seinen Angaben haben die 83 Jüdischen Gemeinden inzwischen wieder 100.000 Mitglieder. Viele von ihnen kamen aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion nach Deutschland. Als der Zentralrat 1950 in Frankfurt am Main gegründet wurde, lebten nur noch 15.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. Vor der Machtergreifung der Nazis zählten die Jüdischen Gemeinden etwa 600.000 Mitglieder.
Der Staatsvertrag soll die Beziehungen zwischen dem Zentralrat und dem Bund regeln, sagte Innenminister Otto Schily, der jetzt die Einzelheiten vereinbaren soll. Nach den Worten Schröders übernimmt der Zentralrat eine wichtige Integrationsaufgabe für die ganze Gesellschaft. Der Betreuungsaufwand für die jüdischen Mitbürger sei gewaltig gestiegen. Die deutlich gewachsene Mitgliederzahl bezeichnete Schröder als einen wirklichen wichtigen und wertvollen Beitrag für das Land. Die Erhöhung der Mittel sei eine "sachliche Notwendigkeit". Es gebe ein eminentes staatliches Interesse, dass die Integrationsarbeit gelinge und antisemitische Strömungen in Deutschland zurückgedrängt würden.
Mit dem Geld des Bundes werden keine Sprachkurse finanziert. Dies ist Aufgabe der Gemeinden. Für Zuwanderer schreibt das neue Zuwanderungsgesetz, das am 1. Januar in Kraft treten soll, generell Sprachkurse vor. Nach Worten von Spiegel müssen die in der früheren Sowjetunion verfolgten Juden mit dem Judentum vertraut gemacht werden. Dazu gehörten auch die Riten und Gebräuche - dafür brauche man Personal. In Deutschland müssten auch Rabbiner ausgebildet werden. Die 83 jüdischen Gemeinden hätten derzeit nur 30 Rabbiner.
Die Antisemitismus-Debatte der vergangenen Monate ist nach Worten Spiegels am Zentralrat nicht spurlos vorübergegangen. "Es war eine Debatte, wie wir sie uns nicht haben vorstellen können, dass sie in Deutschland wieder stattfinden würde." Das Thema ist laut Spiegel nicht beendet, "da wir mit dem Protagonisten, der Auslöser dieser Debatte war, keinerlei Gespräche haben und keinerlei Gesprächsbedarf haben". Die Debatte hatte der inzwischen von allen Parteiämtern zurückgetretene FDP-Politiker Jürgen Möllemann ausgelöst, der die Politik der israelischen Regierung und Spiegel-Vize Michel Friedman mehrfach scharf kritisiert hatte.
Zu den Terrordrohungen islamistischer Organisationen sagte Spiegel, in den Jüdischen Gemeinde herrsche pure Angst. Viele lehnten es ab, in Synagogen zu gehen, wenn davor keine Polizisten stünden. Schily bekräftigte zum wiederholten Mal, dass Deutschland Ziel ernsthafter Bedrohung sein könnte. Es gebe aber keine konkreten Hinweise. Er warnte vor einer Panikstimmung.
Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,222833,00.html
Steuern statt Reformen
Von Michaela Schießl
Müntefering will ganz offen noch mehr Steuern erheben, Scholz trotz Reformkommission keine Reform durchführen - in der SPD setzt man nach den wochenlangen Lügenvorwürfen auf harte Wahrheiten.
Berlin - Die anhaltende Beschimpfung als Lügner und Betrüger ist SPD-Fraktionschef Franz Müntefering offenbar zu Herzen gegangen. Seit neuestem nämlich spricht er Klartext zu seinem Volk - und das klingt so: "Weniger für den privaten Konsum - und dem Staat das Geld geben, damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben erfüllen können“, forderte er in einem Interview mit dem "Tagesspiegel am Sonntag“.
Wer nun mit einem schrillen Schrei krampfhaft sein Sparschwein umkrallt, für den hat Müntefering aufmunternde Worte parat: Schließlich liege doch "auch eine Herausforderung" darin, den privaten Konsum zurückzuführen. Der Staat jedenfalls brauche das Geld, um handlungsfähig zu sein, hierzu müsse sich die Politik bekennen.
Damit sich der Bürger von seinem Konsumzwang befreien kann, will Müntefering zügig in die Geldbeutel fassen. Eine "zeitlich befristete Steuer- und Abgabenerhöhung für einen bestimmten Zweck“ schwebt ihm vor, keine generelle Mehrwertsteuererhöhung.
Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD), der wahlkämpfend die Vermögenssteuer einführen will, schloss sich ohne Zögern Münteferings Offenheitskampagne an. "Wir dürfen nicht verschweigen, dass in den nächsten Jahren Anstrengung und Verzicht auf uns alle zukommen", sagte er der Zeitung "Die Welt“.
Da wollte auch Olaf Scholz in puncto Klartext nicht mehr nachstehen. Obwohl die Regierung gerade eine Reformkommission in Sachen Gesundheit und Rente eingesetzt hat, bekannte der Generalsekretär, dass bis 2010 keine Rentenreform mehr nötig sei. Die Reform vor zwei Jahren sei ein erster Schritt zur Zukunftssicherung der Rente gewesen und trage die nächsten Jahre. Unterstützung bekam Scholz indirekt von Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD).
Bei der Rentenversicherung "dürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die wichtigste Reform, die Einführung der kapitalgedeckten Altersvorsorge, hat stattgefunden“, sagte er dem Bonner "General-Anzeiger“. Jetzt gehe es um die Balance von Einnahmen und Ausgaben und um die Konsequenzen aus der Bevölkerungsentwicklung.
Damit ist klar: die Arbeit der Reformkommission ist praktisch ad absurdum geführt. Eingesetzt, um linke SPDler und die Grünen zu beruhigen, stoßen die Vorschläge der Rürup-Reformer bei den maßgeblichen Sozialdemokraten schon jetzt auf taube Ohren. Wenig nutzt da die wütende Forderung der Grünen an den Kanzler, eine ähnliche Zusage wie beim Hartz-Konzept zur Arbeitsmarktreform abzugeben, wonach die Überlegungen der Rürup-Kommission sofort umgesetzt werden sollen. Wo doch bekannt ist, dass das Hartz-Konzept derart entstellt wurde, dass sich selbst der Namensgeber dafür schämt.
Die neue Ehrlichkeit reichte am Wochenende bis hin zum Schuldeingeständnis. Müntefering räumte angesichts der drastischen Vertrauenskrise "ein Problem mit der Darstellung nach außen“ ein: "Das ist nicht alles optimal gelaufen." Clement bekennt: "Da gab es Probleme“, aber "wir mussten es so machen und eine gewisse Unübersichtlichkeit in Kauf nehmen“. Und Finanzminister Hans Eichel glaubt: "Wir haben nicht klar genug beschrieben, was wir eigentlich wollen und wohin die Reise geht." Zurücktreten will er trotz der heftigen Kritik allerdings nicht. "Das wäre wohl ein zu billiger Ausweg. Finanzpolitik ist leicht in guten Zeiten. Einfach in den Sack zu hauen, sobald es schwierig wird - das ist nicht meine Art“, sagte der Minister der "Welt am Sonntag“. Zuvor hatte das "Hamburger Abendblatt“ berichtet, Eichels Entlassung stehe möglicherweise bevor. Die Bundesregierung dementierte umgehend. "Wir werden Hans Eichel noch lange als Bundesfinanzminister brauchen“, sagt Olaf Scholz. Wer würde ihm nicht glauben.