Wie Fleisch, das über die Theke geht
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Eröffnet am: | 29.08.04 20:37 | von: Besenwagen | Anzahl Beiträge: | 2 |
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Eine ARD-Dokumentation rekonstruiert den jahrzehntelangen Häftlingsfreikauf im geteilten Deutschland
Torsten Wahl
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Im Sommer 1963 forderte die Bild-Zeitung die Bundesregierung energisch auf: "Kauft Freiheit!". Damals wurde im Westen noch öffentlich darüber diskutiert, ob man tatsächlich politische Gefangene der DDR gegen Westmark freikaufen solle. So direkt und offen wurde dieses deutsch-deutsche Geschäft später kaum mehr behandelt. Die freigekauften Gefangenen wurden vom DDR-Unterhändler Wolfgang Vogel im Bus auf dem Weg zur Westgrenze um absolutes Stillschweigen gebeten, um weitere Freilassungen nicht zu gefährden.
Selbst Axel Springer verpflichtete sich, den Handel nicht mehr an die große Glocke zu hängen und bat seine Mitarbeiter und Kollegen: "Lasst uns die Tinte trocken halten." Bis zum Ende der DDR wurde die Sache kaum thematisiert. Jürgen Engert, der mit dem ARD-Politmagazin "Kontraste" in den 80ern nie einen Beitrag zum Thema brachte, erklärt: "Es gab die still schweigende Übereinkunft der Berliner Journalisten, solche fragilen Komplexe nicht auf den Markt zu bringen. Das war ein vermintes Feld."
Rainer Barzel schimpft
Fast vierzehn Jahre nach dem letzten Freikauf eines DDR-Gefangenen kann nun eine ARD-Dokumentation unbefangener und offen diese besondere Art des Menschenhandels rekonstruieren. Bei der Präsentation des Films im Tränenpalast musste der RBB allerdings erleben, dass das Thema immer noch für Kontroversen gut ist. Ehrengast Rainer Barzel, der 1962 als Minister für Gesamtdeutsche Fragen unter Konrad Adenauer für den Start des Freikaufs verantwortlich war, fühlte sich durch die Dokumentation "karikiert" und "diffamiert". Für die "Diffamierung" war natürlich der politische Gegner verantwortlich, der im Film zu Wort kommt. Als "Karikatur" empfand der CDU-Veteran schon den Kommentar im Film, er sei damals "ehrgeizig" gewesen. "Ich war nicht einfach nur ehrgeizig und interessiert an der Sache, ich habe sie mir zu Eigen gemacht, durchgesetzt und verantwortet", betonte Barzel. "Welches Risiko ich dabei eingegangen bin, wird im Film kaum erwähnt." Das war nicht nur ein Beleg für die Aufgeladenheit des Themas, sondern auch für die Eitelkeit eines Politikers.
Wichtiger und emotional bewegender sind in der Dokumentation die Schilderungen der Inhaftierten, die nie wussten, ob und wann sie in den Westen durften. Für jemanden, der wegen ein paar verbotener Fotos zu acht oder zwölf Jahren Zuchthaus in Bautzen verurteilt wurde, war die Freilassung wie eine zweite Geburt. Doch nicht jeder war glücklich über diese Lösung. Einer fühlte sich wie "Fleisch mit Stempel, das über die Theke geht." Die Kamera fährt durch die vergitterten Flure der DDR-Gefängnisse - ein etwas abgenutztes Standardmotiv der Dokus über die DDR-Geschichte.
Die zweiteilige Dokumentation von Jürgen Ast hat dann ihre stärksten Seiten, wenn sie das diffizile Geschäft nicht nur moralisch diskutieren und bewerten lässt, sondern wenn sie die Fakten rekonstruiert. Also auch die Fragen beantwortet: Wer hat mit wem diesen Handel eingefädelt? Wer gab politischen Rückhalt? Und, so makaber das klingt, wie viele Deutsche Mark pro Häftling ließ sich die Bundesregierung von der DDR entlocken, die für Devisen sämtliche ideologische Grundsätze über Bord warf? Von anfangs 40 000 DM stieg die Summe später auf fast 100 000 DM.
In der S-Bahn gen Westen
Im Mittelpunkt steht wieder einmal der DDR-Anwalt Wolfgang Vogel, der zusammen mit seinem inzwischen verstorbenen Westberliner Kollegen Jürgen Stange 1963 der Bundesregierung das entscheidende Angebot unterbreitete und bis 1989 maßgeblich an der Abwicklung des Geschäfts beteiligt war. Über seinen Tisch gingen die Listen mit den Namen der Häftlinge. Daneben kommen beteiligte Politiker wie Egon Bahr, Günter Gaus, Ludwig Rehlinger und natürlich Rainer Barzel zu Wort.
Nicht alle Fakten ließen sich in den Gesprächen und Akten aufklären: Gern hätte Autor Jürgen Ast mit einem der ersten acht Freigelassenen gesprochen, die 1963 am Bahnhof Friedrichstraße in die S-Bahn gen Westen steigen konnten, nachdem der DDR-Seite in einer filmreifen Szene 340 000 DM in einem Briefumschlag zugesteckt worden waren. Doch er fand über die ersten Acht keine Dokumente mehr.
Die gekaufte Freiheit, zwei Teile, montags, 21.45 Uhr, ARD