"Warum die Zitronen sauer wurden"
Seite 1 von 1 Neuester Beitrag: 21.10.09 16:00 | ||||
Eröffnet am: | 02.09.09 19:40 | von: Mint | Anzahl Beiträge: | 5 |
Neuester Beitrag: | 21.10.09 16:00 | von: Mint | Leser gesamt: | 5.205 |
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Ganz früher waren die Zitronen,
Ich weiß nun nicht genau mehr, wann dies
Gewesen ist, so süß wie Kandis.
Bis sie einst sprachen: „Wir Zitronen,
Wir woll'n so groß sein wie Melonen;
Auch finden wir das Gelb abscheulich,
Wir wollen rot sein oder bläulich.“
Gott hörte oben die Beschwerden
Und sagte: „Daraus kann nichts werden!
Ihr müsst so bleiben, ich bedauer'“;
Da wurden die Zitronen sauer.
H.E.
Die Matte,
sie hatte der Mattigkeit wegen,
die ganze Zeit vor der Haustür gelegen.
Auf einmal war die Matte verschwunden -
sie hatte die Mattigkeit überwunden.
HE
:)
"Du weißt, ich mache nicht viel Worte !
Hier, nimm einmal die Tüte schnell,
sind Äpfel drin von bester Sorte !
Leg einen auf des Sohnes Haupt,
versuch, ihn mit dem Pfeil zu spalten !
Gelingt es Dir, sei's Dir erlaubt,
des Apfels Hälften zu behalten !"
Der Vater tat, wie man ihm hieß,
und Leid umwölkte seine Stirne,
der Knabe aber rief: "Komm, schieß
mir schnell den Apfel von der Birne !"
Der Pfeil traf tödlich - - - einen Wurm,
der in dem Apfel wohnte ....
Erst war es still, dann brach ein Sturm
des Jubels los, der'n Schützen lohnte !
Man rief: "Ein Hoch dir, Willi Tell !
Jetzt gehn wir einen trinken, gell ?"*
H.E.
Wer sich mal in die Nesseln setzt,
ist erst erschrocken, dann verletzt,
erhebt sich mühevoll und schreit
nach bessrer Sitzgelegenheit.
Den Nesseln, auch wenn sie schön blühn,
sind weiche Stühle vorzuziehn.
Auf Weichem sitzt man stets apart ...
Nicht weich zu sitzen, das ist hart !
H.E.
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.
Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen - echt famos!
Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.
Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.
Trifft's hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken
– auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!
Soll man das System gefährden?
Da muß eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.
Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.
Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und – das ist das Feine ja –
nicht nur in Amerika!
Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen
– ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.
Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.
Von Kurt Tucholsky (1890 -1935) 1930 in der Wochenzeitschrift "Die
Weltbühne" veröffentlicht.