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Sieht aus wie ein Incel-Clip
Gender-Roman aus dem 19. Jahrhundert erstmals auf Deutsch George Sands Roman „Gabriel“: Das Gender-Buch der Stunde
Von Dr. Stefan Lüddemann | 09.03.2023, 15:23 Uhr
Der Roman ist fast 200 Jahre alt, liest sich aber wie ein Buch zur aktuellen Gender-Debatte: George Sands Dialogroman „Gabriel“ ist eine Sensation der Literatursaison - und erstmals auf Deutsch zu lesen.
Ist sie ein Er, er eine Sie? Wer das wüsste. Gabriel reitet wie der Wind und kämpft sich mit dem Degen durch die Wirtshausrauferei. Gabrielle himmelt den Mond an und bringt Astolphe um den Verstand. Beide Vornamen klingen gesprochen identisch. Was phonetisch gleich ist, meint in dem Roman „Gabriel“ der französischen Dichterin George Sand natürlich ein- und dieselbe Person. „Gabriel“ ist das Gender-Buch der Stunde, eine literarische Sensation wie aus dem Nichts. Und eine aufregende Lektüre.
George Sands „Gabriel“ zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt
Ein Dialogroman aus dem Jahr 1839, in deutscher Erstübersetzung, von der heute nicht gerade mehr oft gelesenen George Sand? Die Eckdaten des Buches klingen nach einem Griff in noch kaum erforschte Untiefen der Literaturgeschichte. Doch das Buch liest sich überraschend spannend und vollkommen gegenwärtig. „Du hast mich wieder Frau werden lassen, aber ich habe nicht ganz aufgehört, Mann zu sein“: Gabriel, das ist der Mensch auf der Grenze der Identitäten, erfüllt für sich, irritierend für andere.
George Sand, die 1804 in Paris als Tochter eines Offiziers und einer Modistin unter dem Namen Amantine Aurore Lucile Sand auf die Welt kam und 1876 starb, schockierte ihre Zeit mit einem Leben jenseits der Geschlechterkategorien. Sie rauchte, ging in Männerkleidern aus, lebte die Liebesbeziehungen, die sie wollte. Legendär ihr Winter mit dem Komponisten Frédéric Chopin auf Mallorca,. Bezeichnend die Schmähungen, mit denen sie ihre Freiheit bezahlte. Der Philosoph Friedrich Nietzsche giftete über die „Milchkuh mit schönem Stil“.
Mit Gabriel setzt sie eine literarische Figur ins fiktive Leben, die durchlebt und durchleidet, was die Autorin selbst auszuhalten hat – Konflikte um ein Leben mit einer selbst gewählten Identität. Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es: Ein Satz mit Sprengkraft, formuliert von der Frauenrechtlerin Simone de Beauvoir im 20. Jahrhundert.
George Sand kämpft um Gleichberechtigung
Über 100 Jahre früher spielt George Sand bereits jene Kämpfe durch, die durchzustehen hat, wer dieses gesellschaftliche Gesetz in Frage stellt. Gabriel ist ein Mä dchen, das in der Abgeschiedenheit zum Mann erzogen, um Erbe des adligen Patriarchen Jules de Bramante werden zu können. Astolphe hingegen möchte Gabrielle ganz als Frau. Seine Angebetete kann sie jedoch nur um den Preis der neuerlichen Gefangenschaft sein. Ein Teufelskreis der Unfreiheit.
Gabriel oder Gabrielle? Egal. Dieser Mensch kann nur dort ganz er selbst sein, wo er den Erwartungen und Zuschreibungen entrinnt. George Sand findet berauschend intensive Situationen für diese Momente der Freiheit. Ob Gabriel mit dem Degen kämpft, verwegen zu Pferde sitzt, oder Gabrielle mit Astolphe über Gefühle philosophiert – immer geht es um einen Menschen, der seine Freiheit lebt, seine Identität verhandelt.
Spiel mit den Rollen der Geschlechter
Masken und Maskeraden, die ständigen Kleiderwechsel und entsprechend ambivalenten Körperbilder, sie avancieren zu den Medien, in denen Gabriel seinen (oder ihren) Ausdruck findet. Diese Motive kommen aus jener Epoche der Romantik, zu der Sands Roman gehört. Wer sie im Hinblick auf Diskussionen um Identität und Gender liest, findet in ihnen jedoch überraschend aktuelles Material. Diese literarische Entdeckung macht klar, dass der Streit um Rollenkonzepte eine überraschend lange Vorgeschichte hat.
Gabriel bleibt im Duell mit dem Mann siegreich
„Stammt diese Ohrfeige von der Hand einer Frau, so werde ich sie mit einem Kuss bestrafen; doch wenn Sie ein Mann sind, fordere ich Genugtuung“: So liest sich das Diskriminierung in der Sprache des 19. Jahrhunderts. Hat sich viel daran geändert? Im Roman zieht Gabriel blank und behält im Kampf gegen den hochmütigen Antonio die Oberhand. „Gabriel“ ist ein furioser Ritt der Freiheit einer Frau, die selbst entscheiden möchte, wie sie leben will, ein Buch obendrein, dass sich als Roman in Dialogen filmisch fesselnd liest. Ein Buch wie ein Update – aus der Vergangenheit.
George Sand: Gabriel. Ein Dialogroman. Übersetzt von Elsbeth Ranke. Reclam Verlag. 176 Seiten. 18 Euro.
Manche erinnert das womöglich an einen VU Classics