Guten Morgen liebe Rentner!


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Neuester Beitrag: 14.11.02 09:23
Eröffnet am:14.11.02 09:23von: anarch.Anzahl Beiträge:1
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2728 Postings, 7915 Tage anarch.Guten Morgen liebe Rentner!

 
  
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14.11.02 09:23

Die Wählerfraktion von morgen - Am Ende des Wohlfahrtsstaats

Wie die Regierung uns bestiehlt


In Deutschland gibt es mehr Arbeitnehmer als Rentner. Noch. Auch in Hessen, auch in Niedersachsen, wo demnächst gewählt wird. Handelt es sich mithin um einen Akt politischen Selbstmords, wenn die rot-grüne Regierungsfraktion am Freitag entgegen allen Versprechen und Absprachen den Rentenbeitragssatz auf 19,5 Prozent des Bruttolohnes erhöht? Oder glaubt sie, der Begriff "Beitragsbemessungsgrenze" ist für Absolventen hessischer oder niedersächsischer Schulen viel zu lang, als daß ihnen auffallen würde, wenn diese Grenze nach oben verschoben wird?

Zählt man zu den Arbeitnehmern die Arbeitslosen hinzu, dann steht den Rentnern, deren Sonderinteressen so zu Staatsinteressen gemacht werden, eine noch größere Gruppe gegenüber, die unter der Verteuerung von Arbeit - im Abschwung! - leiden wird. Zusätzlich zu den Abgaben werden die Steuern angehoben, allerorten die Gebühren für staatliche Leistungen erhöht, die Neuverschuldung wird ausgeweitet, was einer Steuererhöhung von morgen entspricht. Der Glaube jener geschröpften Alterskohorten an zukünftige Gegenleistungen entsprechenden Umfanges ist längst verdampft. "Generationenvertrag" bedeutet inzwischen ungefähr dasselbe wie "Lüge". Nichts von dem, was jetzt eingezahlt wird, um den Rentnern ja nichts zuzumuten, wird den Einzahlern jemals vergolten werden. Um 1980 Geborene werden für einen Euro im besten Fall achtzig Cent Rente erhalten; wer Jahrgang 1930 ist und regelmäßig eingezahlt hat, erhält für einen Euro zwei. Zum entsprechenden Verlust an Vertrauen ganzer Generationen in den Sozialstaat kommt schließlich das ebenso berechtigte Mißtrauen in die Finanzmärkte, die soeben noch als "zweite Säule" der Alterssicherung empfohlen worden waren. Bilanzfälschung, Konkursverschleppung, betrügerischer Bankrott - die gesamte Terminologie des Wirtschaftsstrafrechts empfiehlt sich als Vokabular für staatswissenschaftliche Seminare und Übungen in vergleichender Regierungslehre.

Beispiellos ist diese Situation, weil in ihr Aufblähung und Ruin des Wohlfahrtsstaats zusammenfallen. Wie alle Staatsformen begründet sich auch seine Existenz nicht nur auf Zahlungsströmen und Machtverteilungen, sondern auf der Plausibilität der Programme, die sie steuern. Sie ist gerade dabei, zerstört zu werden. Denn wenn nur 1,4 Prozent aller mehr als Fünfundsechzigjährigen Sozialhilfe beanspruchen, wenn weder Beamte noch Selbständige in die Rentenkasse einzuzahlen haben, wenn für die jetzt Geschröpften ein Rentenzugangsalter von siebzig in den Blick genommen wird - dann ist das mit der Mär von der Altersarmut dekorierte Argument, es gehe hier um Gerechtigkeits- und Solidaritätsfragen, um die Abwehr sozialer Kälte und um einen Sozialstaat für die Schwachen, dann ist dies alles nur ein riesiger Intelligenztest, den die Regierung mit ihrem Volk veranstaltet.

Und doch gibt es in diesem Land kein Anzeichen für Steuerunruhen, wie sie im Mittelalter und der frühen Neuzeit bei ähnlichen Zumutungen aufflammten. Aller möglichen Themen haben sich soziale Bewegungen angenommen, aber Steuerverweigerungsaktivisten, die sich auf den Dächern von Finanzämtern oder an den Pforten von Bundesversicherungsanstalten anketten, sind bislang nicht gemeldet worden. Wir haben streng beobachtete Maßzahlen für den zulässigen Lärm an Fließbändern, Höchstmengen für den Anteil von Farbstoff in unseren Marmeladen, und wenn irgendwo ein Geigerzähler ausschlägt, setzen sich Leute auf Eisenbahnschienen. Aber wenn der Rentenbeitragssatz von 19,1 auf 19,3 und 19,5 Prozent ansteigt und es gar keinen Grund zur Annahme gibt, damit sei schon Schluß, dann kommt das soziale Grenzwertbewußtsein selber an eine Grenze.

Nach politökonomischer Lehre ist es am schwierigsten, den Widerstand gegen das zu organisieren, was alle schädigt. Kleine Gruppen bilden ihren Willen leichter, einigen sich auf die notwendigen Beiträge zu seiner Durchsetzung schneller als große. Darum sind die Belange der Konsumenten politisch so schwach vertreten und die der Bauern so gut, haben die Stromhersteller und die Zahnärzte eine so starke Lobby, die Steuerzahler aber eine so ohnmächtige. Doch im vorliegenden Fall erklärt diese Lehre zuwenig. Denn die Rentner obsiegen über die Arbeitnehmer wohl kaum aufgrund von Organisationsvorteilen älterer Bürger bei der Lobbyarbeit für ihre Sache. Auch die Rentner sind eine heterogene Großgruppe. Selbst der Hinweis, es seien ihre Sprachrohre in den Wohlfahrtsverwaltungen und den angeschlossenen Beratungs- und Betreuungsindustrien, die für den nötigen Druck sorgen, macht nicht einsichtig, weshalb Sozialdemokraten und die inzwischen vollends sozialdemokratisierten Grünen offenbar gewillt sind, den Leuten nur noch eine zynische Haltung zum Sozialstaat übrigzulassen.

Vielleicht muß neben politökonomische Erklärungen eine sozialpsychologische treten. Der programmatische Erschöpfungszustand der deutschen Parteien ist offenkundig. Das Wort "Zukunft" ist seit langem schon nur mehr eine Phrase zur Durchsetzung von ganz gegenwärtigen Aneignungsinteressen. Ferne Ziele, die den bürgerlichen Charakter einst entsagungsbereit sein ließen, werden für unwählbar gehalten. Das politische Vorstellungsvermögen ist auf den Augenblick geschrumpft. Kann es sein, daß die Politik sich in dieser Lage am besten in Personenkreise einfühlen kann, für die objektiv mehr endet als neu beginnt? Die mehr Vergangenheit als Zukunft haben? In Abwandlung einer berühmten finalen Geste, die einst den "Verfall einer Familie" besiegelte kann man über die Sozialpolitik der Regierungsparteien sagen: Sie denken, es komme nichts mehr.  

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