Zuwanderung, Spendenaffäre und Bundesratseklat


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Neuester Beitrag: 29.01.03 14:13
Eröffnet am:29.01.03 12:22von: Happy EndAnzahl Beiträge:11
Neuester Beitrag:29.01.03 14:13von: DixieLeser gesamt:879
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95441 Postings, 8519 Tage Happy EndZuwanderung, Spendenaffäre und Bundesratseklat

 
  
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29.01.03 12:22
Natürlich will er am Sonntag gewinnen. Doch nun droht dem hessischen Ministerpräsident Roland Koch eine absolute Mehrheit. Die könnte ihm mehr schaden als nützen - entfacht sie doch in der Union viel zu früh die Debatte über die Kanzlerkandidatur 2006.


Hessens Ministerpräsident Koch: Um das eigene Image bemüht
 
Berlin - Roland Koch hat die Frage schon oft gehört. Er kann sie wahrscheinlich im Schlaf herbeisagen. Es ist die 1000-Dollar-Frage, und auch hier, im Gasthof "Zur Schmiede" in Alsfeld-Eudorf, vor rund 200 Menschen mit breiten Gesichtern und kräftigen Armen, fällt sie gleich nach seinem Vortrag über Grundwasserabgaben, Milchquoten und hessische Schlachthofstrukturen.

"Ich habe gehört", sagt der Landwirt Wilfried Steuernagel und erhebt sich von seinem Platz, "Sie vertragen sich nicht so gut mit der Frau Merkel". Unter "ehrlichen Männern" könne sich der Ministerpräsident dazu doch einmal äußern. Der Saal lacht. Koch grinst und blickt nach hinten. Dort sitzt der Feind, ein Dutzend Journalisten aus der ganzen Republik. Die Nachrichten-Jäger haben gerade auf Kosten der Hessen-CDU Bockwurst mit Kartoffelsalat verdrückt. Aber sie sind noch hungrig. Sie wollen sehen, wie Koch sich verplappert. Doch Koch ist ganz Selbstbeherrschung. "Niemand schießt die Angela Merkel ab", sagt er und fügt hinzu: "Ich will Ministerpräsident in Hessen bleiben. Und dabei bleibt es auch."

Das muss genügen. Was soll er auch sonst sagen? Ein Wort zu viel - und mit der Geschlossenheit der Union wäre es dahin. Koch stapft zurück in den Bus. Er hat noch drei Termine vor sich an diesem Tag auf seiner "Erfolgstour Hessen". Ein protziger Slogan, doch so wie es aussieht, wird er für Koch in Erfüllung gehen. Forsa prognostiziert ihm 50 Prozent der Wählerstimmen. Das liegt nahe an der absoluten Mehrheit, dem Traumergebnis eines jeden Politikers. Für Koch könnte es jedoch zu einem Problem werden. Dann begänne die Diskussion über die Kanzlerkandidatur in der Union mit aller Macht und vor allem - zu früh.

Fragen danach sind Koch sichtlich unangenehm. In solchen Augenblicken pflegt er Augenkontakt aufzunehmen mit Dirk Metz, seinem Regierungssprecher. Der ist so etwas wie sein zweites Ich, eine Kontrollinstanz. "Es gibt in Hessen keine Stimmung für eine absolute Mehrheit der CDU", sagt Koch und Metz nickt mit halb geschlossenen Augen, während der Wahlkampfbus Kurs Nordhessen hält. Nach einer kurzen Pause fügt Koch hinzu: "Das ist auch nicht meine Politik."

Koch will die FDP unbedingt wieder mit im Boot haben. Und so redet er, wo immer er auftritt, von den Liberalen, die es schon schaffen würden. Besser als 1999. Davon sei er überzeugt. Koch will am Wahlabend nicht alleine gelassen werden. Die Liberalen haben ihn gestützt, als er wegen der Spendenaffäre schwer unter Beschuss lag. Er ist ihnen irgendwie zu Dank verpflichtet. Und er braucht sie auch aus einem anderen Grund: Mit ihnen an der Seite wirkt Koch im innerparteilichen Machtgefüge der Union weniger mächtig. Manchmal kann es klug sein, weniger mächtig zu erscheinen.

Kohl ist sein Ratgeber und Ziehvater

Wie sollte er auch nicht als künftiger Kanzlerkandidat gehandelt werden? Wenn es jemanden gibt, der ganz und gar für die Politik lebt, dann der Mann aus Eschborn, Sohn des hessischen CDU-Justizministers Karl-Heinz Koch. Schon früh war er Schülersprecher auf dem Gymnasium, mit 14 Jahren trat er der Jungen Union ein, mit 32 wird er CDU-Fraktionschef im Landtag und mit 41 ist er Ministerpräsident. Ein steiler Weg - nur die Endstation Kanzleramt hat er noch nicht erreicht. Er würde dann in das Haus einziehen, das sein Förderer bauen ließ. Koch bewundert Helmut Kohl, seitdem er als Jugendlicher mit ihm bis in die Nacht hinein diskutierte. Als sich viele abwandten, hielt er zu ihm. Regelmäßig sprechen die beiden miteinander.

Es verbindet sie manches: Kohl hatte Widersacher in und außerhalb der Partei, Koch hat sie auch. Kohl hatte in der liberalen Öffentlichkeit ein schlechtes Image, ebenso Koch. Eines aber trennt sie: Koch ist noch nie unterschätzt worden.

Auf dem Weg ins Kanzleramt gibt es für Koch nur zwei Unwägbarkeiten: Die eine ist die Partei selbst, in der es viele gibt, die ihn nicht wollen. Die andere heißt Angela Merkel.

In einem Buch des früheren FAZ-Herausgebers Hugo Müller-Vogg hat er auf die Frage, ob die CDU-Partei- und Fraktionschefin jetzt unumstritten die Nummer eins sei, geantwortet: "Angela Merkel hat damit die zentrale Verantwortung für die gesamte Strategie der Union übernommen. Das ist ihr gutes Recht. Da hat sie auch Anspruch auf Unterstützung." Es ist eine meisterliche Ausrede. Kein endgültiges Ja, kein endgültiges Nein. Noch ist für Koch die Zeit nicht gekommen, sich festzulegen.

Wenn es am Sonntag gut läuft in Hessen, bleibt er im Spiel. Dann kann er über den Bundesrat weiter als eine Art Schatten-Fraktionschef Politik machen. Dort hat er zuletzt bei den Verhandlungen über das Hartz-Konzept auf Unionsseite die strategischen Linien entscheidend mitgeprägt. Er braucht nicht viel darüber zu sprechen - die Menschen in Hessen wissen aus den Medien, dass sie mit Koch auch einen Bundespolitiker wählen. Kaum ein Landespolitiker wird so oft in den überregionalen Blättern erwähnt wie er. Koch weiß, dass sein Wirkungsgrad bis nach Berlin reicht. Damit die Wähler in Hessen auf ja nicht vergessen, worum es geht, klebt die CDU in der Endphase den Spruch "Rot-Grün braucht Kontrolle".

Auch die frustrierten Sozialdemokraten sollen ihn als Kontrolleur wählen. Im Norden des Landes, traditionelle Hochburgen der Konkurrenz, vermutet die CDU eine Menge Enttäuschter. Sie hat sich daher eine Sonderkampagne einfallen lassen: "Damit es in Nordhessen aufwärts geht - diesmal CDU". Es ist wie ein Appell an den inneren Schweinehund der Roten: Geben Sie sich einen Ruck! Vergessen Sie Koch!

"Ich finde es schade, dass ich den Leuten unsympathisch bin"

Koch, verheiratet und Vater zweier 15- und 16-jähriger Söhne, weiß, dass ihm als Person die Sympathien nicht gerade zufliegen. Aber er nimmt es hin: "Ich persönlich finde es schade, dass ich den Leuten unsympathisch bin. Das ist sicherlich auch ein Problem von Nähe und Ferne", sagt er im Wahlkampfbus. Er redet über sein Äußeres wie jemand, der sich damit abgefunden hat, dass darüber geredet wird. Sein Gesicht, sagt er, sei "relativ brauchbar für Karikaturen" und sowieso "leicht erkennbar". Er hat sich damit abgefunden, dass ein Image von anderen mitbestimmt wird. Er will es ohnehin nicht jedem recht machen. Das "Sympathieproblem" hänge auch damit zusammen, dass er einen "relativ steinigen Weg" hinter sich habe, glaubt er: "In der Summe von Zuwanderungsgesetz, Spendenaffäre und Bundesratssitzung kann man nicht Everybody's Darling sein".

Koch hat mittlerweile einen Punkt erreicht, wo er spielerisch mit dem Image der CDU in Hessen umgehen kann. Und damit letzten Endes mit seinem eigenen. In der Halle von Neuenstein-Obergeis redet er rund 600 Zuhörern ins Gewissen: Deren Freunde, Kollegen, Angehörige mögen "sogar Gerhard Schröder gut finden", aber im Interesse ihrer Jobs müssten sie "diesmal CDU wählen." Die Botschaft kommt an, die Menge jubelt.

Koch hämmert den Menschen in diesen Wochen seine Erfolge ins Gedächtnis: 2900 zusätzliche Lehrer, 1400 neue Referendare, 1100 zusätzliche Polizisten, weitere 1300 Wagen für die Polizei, neue Computer. Dass sein Finanzminister im vergangenen Jahr zwei Milliarden Euro bei den Banken für den Haushalt aufnahm - im Wahlkampf geht das Thema unter.

Vergessen scheint auch der Spendenskandal der hessischen CDU, vergessen seine Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, mit der er 1999 Rot-Grün aus der Landesregierung fegte. Steuererhöhungen, neue Abgaben bei Rente und Gesundheit, der Schatten Berlins liegt auch auf Hessen und schiebt Koch in den Umfragen weit nach vorne. Der Gegner von der SPD ist in diesen Wochen fast unsichtbar.

Während Koch durchs Land tourt, schwenkt die hessische SPD zehn Tage vor der Wahl auf das Irak-Thema ein. Die Irak-Frage - das große Trauma der Union. Damit hat Edmund Stoiber den Bundestagswahlkampf verloren. Das weiß auch Koch. Am Tag zuvor hat der Kanzler in Niedersachsen ein Ja im Uno-Sicherheitsrat ausgeschlossen. Koch spielt das runter: "Das ist eine sehr riskante Strategie der Sozialdemokraten - wir haben nichts anderes, nun versuchen wir das Gleiche nochmals".

Er selbst laviert in der Frage nach dem Abstimmungsverhalten. Die Debatte müsse so bleiben, dass "man am Ende zusammen mit Europa abstimmen kann", sagt er. Das Thema Irak kommt in seinem Wahlkampf zwar vor - nur richtig festlegen lässt er sich nicht. Er spricht lieber von einem "Ablenkungsmanöver" Schröders, alle seien für den Frieden, nur solle man nicht in einen Wettstreit darüber verfallen. Irgendwie scheint ihm der Vorstoß der SPD nicht ganz geheuer. Was bleibt, ist das Prinzip Hoffnung. Und so sagt Koch: "Das Thema entscheidet nicht über den hessischen Wahlkampf."

Mit anderen Themen kriegt ihn die Opposition nicht zu packen. Selbst dort, wo die Sozialdemokraten ihn angreifen könnten, ist Koch schon einen Schritt weiter. Hatte er nicht vor vier Jahren mit der Unterschriftenkampagne uralte Ängste gegen Ausländer mobilisiert? Seitdem galt er in linken und linksliberalen Kreisen als "Ausländerfeind". Seitdem aber arbeitet Koch langsam und zäh an seinem Image. Er weiß, dass es auf bundespolitischer Ebene noch auf ein paar weiche Botschaften ankommt.

In Frankfurt-Schwanheim, mit Blick auf die Chemiewerke von Hoechst, besucht er frühmorgens eine Grundschule, in der vier bis fünfjährige türkische, russische und arabische Kinder Deutsch lernen. Er verteilt den hessischen Löwen als Kleinst-Plüschtier, redet mit den Erzieherinnen. Die sind voll des Lobes.

569 solcher Deutsch-Vorlaufkurse mit insgesamt 4600 Kindern gibt es seit knapp drei Monaten in Hessen. Was sollen die Grünen und Sozialdemokraten da noch bemängeln? "Zu uns", sagt Koch, "kommen jetzt sogar die Integrationsexperten aus anderen Ländern".



Experte für gespielte Auftritte
 
Hat sich da einer also grundlegend gewandelt? In seinen Wahlkampfveranstaltungen erzählt er gerne die Geschichte vom Ausländer, der wegen Rot-Grün nicht abgeschoben werden kann. Kochs Stimme wird dann immer einen Tick heller und der ironische Tonfall ist nicht zu überhören. Der Ausländer, erzählt er, lobe in einem Brief an seine Mutter die gute Verpflegung und Behandlung. Und am Ende schreibe er: "Sage unserem Bruder, er soll nachkommen". In diesem Augenblick jubeln ihm die Menschen zu, ob in Kassel oder in Neuenstein-Obergeis. Wenn es darauf ankommt, versteht er sich auf das Spiel mit Emotionen, auch mit gefährlichen. Nur dass er die Botschaft diesmal besser verpackt. Die Menschen aber verstehen sie trotzdem.  

2728 Postings, 7908 Tage anarch.Wie läuft's so Happy End?

 
  
    #2
29.01.03 12:25

3263 Postings, 9082 Tage DixieSind alles keine Schönheiten

 
  
    #3
29.01.03 12:35

3286 Postings, 8165 Tage PRAWDAHappy End ist mit seinem

 
  
    #4
29.01.03 13:16
Latein am Ende.
Deshalb muss er in seine Mottenkiste greifen.
Ein ewig Gestriger?
Also ein Stinkkonservativer?  

95441 Postings, 8519 Tage Happy EndEben, was kümmert mich das Gestern

 
  
    #5
29.01.03 13:22

413 Postings, 8633 Tage Verbrecherrot-grün hat sich den schlammassel...

 
  
    #6
29.01.03 13:48
...selbst eingebrockt.

die derzeitige regierung verfolgt eine sehr geradlinige Wirtschafts-/Steuer-und Arbeitsmarktpolitik --> SIE FÄHRT DEN KARREN GERADEWEGS VOR DIE WAND.

mir tun nur die arbeitslosen leid, die besonders stark betroffen sind. sie konkurrieren mit immer mehr wettbewerbern um immer weniger stellen. sie bekommen weniger arbeitslosengeld, zahlen mehr für benzin, gas, strom, usw.

auf die "alte" wahltaktik, "rot/grün = frieden und union = Krieg" wird der wähler wohl kein 2tes mal hereinfallen...

die quittung kommt jetzt bei den landtagswahlen...


mfg!



 

6506 Postings, 8302 Tage Bankerslastgestern nachmittag lief

 
  
    #7
29.01.03 13:54
auf einem Sender (ntv o. ä.) life eine Wahlveranstaltung mit Koch. Der Mann war gut, sehr gut sogar. Dies mußten auch Kommentatoren bestätigen. "Er hat absolute Ambitionen zum Kanzlerkandidaten" meinte einer.  

21368 Postings, 8349 Tage ottifantDer soll erst mal erzählen wo das Geld herkommt

 
  
    #8
29.01.03 13:57
bevor er sein Maul ausreißt.  

2728 Postings, 7908 Tage anarch.Koch wird ein sehr guter Kanzler ;O)

 
  
    #9
29.01.03 14:06

Ich sach ma: Ihr hättet ja Stoiber wählen können. Beschwert Euch jetzt blos nich!  

8215 Postings, 8402 Tage SahneDer wahre Erbe von Helmut Kohl

 
  
    #10
29.01.03 14:06
 
Was geht mich meine Verfassungsauslegung von gestern an?

Kochs zweiter Streich: Die Verfassungsrevolution geht weiter

Nachdem die Regierung Schröder im Juli 2000 ihre Steuerreform durch den Bundesrat gebracht hatte, wurde CDU-Generalsekretär Polenz im Deutschlandfunk zu den drei von großen Koalitionen regierten Ländern befragt, deren Einschwenken den Sieg der Regierung herbeigeführt hatte. Polenz gab zu bedenken, man müsse "sicherlich unterscheiden die Situation in den Ländern, wo wir in großen Koalitionen sind, aber nicht den Ministerpräsidenten - und damit den Stimmführer - stellen, und Ländern, wo das anders ist". Der Generalsekretär wollte das Handeln des Berliner Regierenden Bürgermeisters Diepgen anders bewerten als das Verhalten der stellvertretenden Ministerpräsidenten von Bremen und Brandenburg, Perschau und Schönbohm.

Die Auffassung der CDU-Führung, daß von Schönbohm nicht erwartet werden konnte, gegen seinen Ministerpräsidenten Stolpe eine - dem Nein gleichkommende - Enthaltung Brandenburgs zu erzwingen, entsprach der ungebrochenen Verfassungspraxis. Die Länder werden zur Stimmabgabe aufgerufen, und da sie ihre Stimmen nicht splitten können, antwortet eines der Mitglieder namens seines Landes. Wieso hätte man Schönbohm drängen sollen, eine Stimmführerschaft an sich zu reißen, die Stolpe schon deshalb wie von selbst zufiel, weil er den Rebellen noch in der Bundesratssitzung hätte entlassen können? Die Möglichkeit, ein abweichendes Votum zu Protokoll zu geben, schließt der simple Wortlaut des Grundgesetzes aus. "Die Stimmen können nur einheitlich abgegeben werden." Es heißt nicht: Nur einheitlich abgegebene Stimmen werden gezählt.

Daß diese einfache Frage nun doch Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist, dessen Entscheidung in den nächsten Tagen erwartet wird, hat seine Ursache darin, daß die Unionsspitze eine Wiederholung der Blamage vom Juli 2000 um jeden Preis vermeiden wollte. Als im Februar dieses Jahres der Streit um das Zuwanderungsgesetz eskalierte, tat sich als strategischer Kopf der hessische Ministerpräsident Koch hervor. Er führte seinen Kollegen vor Augen, dürfte der Ministerpräsident im Konfliktfall das entscheidende Wort sprechen, würden alle Koalitionsvereinbarungen hinfällig, die bei Dissens Enthaltung im Bundesrat vorschreiben. Damit stellte Koch die Sache auf den Kopf. Diese Vereinbarungen setzen gerade voraus, daß die Freiheit des Stimmführers nicht rechtlich beschränkt ist, sondern nur politisch neutralisiert werden kann, indem dem Ministerpräsidenten für den Fall des Wortbruchs der Koalitionsbruch angedroht wird. Es wäre überflüssig, die Enthaltung vorzuschreiben, gäbe es ein Recht des einzelnen Bundesratsmitglieds, durch abweichende Stimmabgabe die Ungültigkeit der Stimmen seines Landes herbeizuführen.

Dieses dem Grundgesetzkommentar von Maunz und Dürig und im Juli 2000 auch Polenz und Frau Merkel noch unbekannte Recht, von dem seine Inhaber in dreiundfünfzig Jahren nicht ein einzigesmal Gebrauch gemacht hätten, entdeckte der Bonner Rechtsprofessor Isensee. Welche Gründe gab der Gutachter der Union dafür, von einer nie bestrittenen Auslegung des Grundgesetzes abzugehen? Man möchte Isensees Theorie in ihrer Mischung aus Überscharfsinn und Oberflächlichkeit für ein Spätzeitprodukt halten und fühlt sich an die Furcht des Thomas Hobbes erinnert, die Interpretationskunst der Juristen zerstöre die Verbindlichkeit des Rechts. Wer Isensee folgt, sitzt einem Evidenzeffekt auf, den das Fernsehen herstellt. Im Bundesrat sitzen die Minister doch wirklich nebeneinander: Da soll es sich nicht um jenes "Parlament" handeln, das Koch in der Februarsitzung anredete?

Indem SPD und Grüne erläuterten, warum jedes Land im Bundesrat als Einheit in Erscheinung tritt, ohne beweisen zu müssen, daß man sich hinter den Kulissen wirklich einig ist, vertraten sie die Sache einer altmodischen Staatsweisheit: Auch in einer Mediendemokratie kann nicht jedes Staatsorgan parlamentarisiert, das hieße zum öffentlichen Austrag interner Konflikte genötigt werden. Der Wille der Union, einen Wahlbetrugsuntersuchungsausschuß zu errichten, drängt die Bundesregierung nun erneut in die undankbare Rolle, öffentlich die Arcana zu schützen. Unabhängig von der Frage, ob der Untersuchungsauftrag verfassungsgemäß wäre, steht fest, daß die Union das Einverständnis darüber aufgekündigt hat, was jedenfalls kein geeigneter Gegenstand für das inquisitorische Instrument ist. Erinnert man sich noch der Klage, im Parteispendenausschuß werde ein Schauprozeß inszeniert? Immerhin konnte er hartnäckige Schweiger und geständige Lügner vorladen. Was bedeutet es, daß man einen ökonomischen Umgang mit Informationen, der eine Sache der politischen Klugheit oder Dummheit ist, durch ein Gremium aufklären lassen will, das seine Arbeit gemäß der Strafprozeßordnung organisiert? Hat die Opposition die Hoffnung aufgegeben, noch einmal die Regierung zu stellen?

Es ist kein Zufall, daß Koch als Betreiber des Ausschußprojektes gilt. Wie er im Februar den Ansehensverlust des Bundesrates in Kauf nahm, so scheint ihm heute gleichgültig, daß nach Schließung der Wahlbetrugsakte niemand mehr glauben wird, daß ein Untersuchungsausschuß der Wahrheitsfindung dienen könne. Soll mit solcher Instrumentalisierung der Institutionen die bürgerliche Revolution in Deutschland beginnen? Ein Konservativer wird Koch oft genannt, doch konservativ wäre ein Gefühl dafür, daß nicht jedes Mittel recht ist. Schon einmal brachte es ein Ministerpräsident zum Bundeskanzler, der seine Verachtung von Formen und Üblichkeiten nicht verhehlte. Roland Koch ist der wahre Erbe von Helmut Kohl.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.2002, Nr. 282 / Seite 37

 

3263 Postings, 9082 Tage DixieGabriel sieht irgendwie

 
  
    #11
29.01.03 14:13
wie eine jüngere Ausgabe von Helmut Kohl aus, oder?  

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