Eine Krisenrhetorik lähmt die Geister


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Eröffnet am:02.12.02 13:59von: vega2000Anzahl Beiträge:1
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Clubmitglied, 50094 Postings, 8640 Tage vega2000Eine Krisenrhetorik lähmt die Geister

 
  
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02.12.02 13:59
Krisen-Deutschland
Apocalypse flau
Die entfesselte Sprache der Krise: Warum es uns so schlecht geht in diesem Land, dass wir selbst unseren Satirikern das Lachen verbieten müssen

Eine Krisenrhetorik überzieht das Land und lähmt die Geister. Die Sprache des Politischen hat zugunsten einer Kriminalsprache abgedankt.Deutschland, ein verwüstetes Land. Ein verantwortungsloses Reden hat eingesetzt, es treibt die Krise in die Köpfe hinein und zeigt dabei Züge demokratischer Verwahrlosung. Jene, die mit dem kalkulierten Zungenschlag eines Krisendiskurses alles auf die Wende mit normalen demokratischen Mitteln setzten, haben sich nach der Enttäuschung durch das Votum des Souveräns der rhetorischen Hemmungslosigkeit ergeben. Nun wird mittels ungezügelten Krisengeredes der Souverän einer größeren Gehirnwäsche unterzogen. Unter Öffnung aller zur Verfügung stehenden Kanäle soll ihm beigebracht werden, wie sehr er irrte.
» Man kann den Offenbarungseid eines Geistes erkennen, der die Legitimität vor die Legalität stellt und auf die Stärke des wirklichen Volkswillens gegen die Schwäche einer normativen Entscheidungsfindung setzt. «        
Der wirklich vorhandene, rechtmäßige Wille des Volkes, so will es die rhetorische Mobilmachung, soll gegen die durch die Wahl erzeugte normative Fiktion eines Willens angehen. Weil auf dem Boden der Legalität die Mühlen zu langsam mahlen, geht man dazu über, der Regierung die Legitimität abzugraben. Wo, wie üblich in diesem Legalitätssystem namens Bundesrepublik, unter normalen Umständen ihre Abdankung nicht vor Ablauf von vier Jahren herbeigeführt werden kann, soll sie von einer Rhetorik des Ausnahmezustands am besten noch in den ersten hundert Tagen aus dem Amt gejagt werden.

Meinungsumfragen, zu Barometern der Legitimität erhoben, führen in aller Deutlichkeit vor Augen, dass die Regierung jeden Kredit verspielt hat und nur noch aufgrund einer lächerlichen demokratischen Verfahrensbestimmung – den Wahlen – den Platz der Macht besetzt hält. Mit jedem Tag, mit dem sie nicht weichen will, wird sie rhetorisch tiefer in den Umfragenkeller geschrieben. In den Graphen der Meinungsforscher nimmt nun der wirkliche Wille des Volkes Gestalt an. Wo einst Prozentzahlen waren, steht jetzt die Einsicht in die entblößte Seele des Souveräns. So einfach ist der Kalkül, der in aller Tücke abläuft.

Der Verlierer hat noch am Wahlabend erklärt, er sei jederzeit bereit, das Amt zu übernehmen. Wer damals glaubte, dies sei eine Floskel, mit der einer in der Stunde der Niederlage seinen Rückzug als Vormarsch tarnt, kann heute darin den Offenbarungseid eines Geistes erkennen, der die Legitimität vor die Legalität stellt und auf die Stärke des wirklichen Volkswillens gegen die Schwäche einer normativen Entscheidungsfindung setzt. Die Berufung auf den Willen des Volkes ist, historisch gesehen, immer das erste Wort und die letzte Waffe der Gegner des Parlamentarismus gewesen; spätestens seit Carl Schmitt ist diese Position bekannt. Das sollte im Kopf haben, wer fast schon in einer Art Zungenrede der Krisis vor den Kameras zuckt oder in Redaktionen sich von Zukunftsangst benommen einen Kommentar zum tatsächlichen Ausmaß des Desasters abringt. Der Schlag gegen die Legitimität trifft am Ende die Legalität.      
» Wo mit den Mitteln des intellektuellen Bankrotts der ökonomische noch einmal abgewendet werden soll, ist der Preis hoch für das Land. «        
Wer sich diesem wilden Sprechen verweigert, gilt als einer, der kleinredet, was nicht groß genug gesprochen werden kann. Er übt Verrat am Überlebensinstinkt einer untergehenden Nation, weil er nicht mit anfasst bei der krisenhaften Bündelung dessen, was sich noch im Zustand der gleichgültigen parlamentarischen Zerstreuung befindet. Aber längst hat die Klugheit, die die polemische Schlagkraft zügelt, weil sie mehr kennt als die angebliche politische Hauptunterscheidung von Freund und Feind, der Lautstärke das Feld geräumt. Eine Krisenrhetorik überzieht das Land und lähmt die Geister. Die Sprache des Politischen hat zugunsten einer Kriminalsprache abgedankt. Weil es in der Krise ums Ganze geht, dessen Niedergang einem klaren Schuldigen angelastet werden soll, spricht man von Wortbruch, ja von Betrug und vom Verbrechen am eigenen Volk. Der Verantwortungsdiskurs ist der tribunalen Anklage gewichen.

Selbst das Feuilleton des Qualitätsjournalismus, einstmals die Heimat des Unterscheidungsvermögens und Zuflucht für alle, die der flammenden Rede das gedrechselte Wort vorziehen, scheint von der Sprache der Krise erfasst zu werden und jede Contenance zu verlieren. Ein politischer Kampfdiskurs in jener scharfmachenden Tonlage, wie sie einst im Kalten Krieg als psychoakustischer Nachhall der realen Weltenteilung zu hören war, ist zurückgekehrt. Jenseits der Linien, die bis vor kurzem die „claims“ und die rhetorischen Mittel der Feuilletons der konservativen Blätter unterschieden, wird nun in einer Einmütigkeit sondergleichen das Land in die Krise und die Regierung ins Aus geschrieben. Selbst die Generationengrenzen in den Redaktionen scheinen seltsam außer Kraft gesetzt. Die Sprache des Ressentiments, wie sie der Geist der Krise hervortreibt, ist zum Verbindenden geworden, wo vordem unterschiedliche Erfahrungen und Werthaltungen für Reibungsflächen sorgten.

So erlebt man nun etwa in der Welt und in der FAZ, wie sonst eher kühle Köpfe dieselben verlieren und sich zu Weltenrichtern aufwerfen, die Kenntnis haben vom katastrophalen Stand der Dinge und unter ihren Lesern Angst und Schrecken verbreiten. Ihr ansonsten üblicher Ton der Distinktion, der so manche Denkwürdigkeit zu Tage brachte, ist dem entsublimierten Rundumschlag gewichen. Wie, fragt sich einer nach der Lektüre so manches Aufmachers, so mancher Glosse, wie kann man eigentlich noch leben in so schwerer Stunde? Selbst einem Harald Schmidt wird nunmehr das Recht auf satirische Einsicht in die bundesrepublikanische Befindlichkeit abgesprochen, obwohl der Mann offensichtlich mehr kritischen Geist hat als alle übrigen Köpfe der magischen Kanäle zusammen.

Die Satire verträgt sich nicht mehr mit dem Ernst der Lage, heißt es. Eine Gesellschaft, die lange Zeit das Lachen auf ihrer Seite hatte und nichts so sehr hasste wie den ernsten Ton, scheint zurück zum Ernst zu wollen. Tatsächlich führt sie nur am Beispiel ihrer journalistischen Eliten vor, wie irre es machen kann, wenn einem das lang geübte Lachen vergeht. Gewiss: Der Ernst der Kritik hat nichts von dem, was sie unter Ernst im Augenblick der Krise meinen. Wo mit den Mitteln des intellektuellen Bankrotts der ökonomische noch einmal abgewendet werden soll, ist der Preis hoch für das Land. Verwüstungen überleben bekanntlich noch die Verwüster selber.

Am Ende werden sie alle mit ihrer Stimme nur die imitiert haben, die kaltblütig mit der Krise rechnen. Wieder abgekühlt, könnten das auch die Heißgelaufenen von heute merken. Doch ihre eigene Stimme wiederzufinden, könnte ihnen dann schwer werden. Stimmenimitatoren können ja theoretisch jede Stimme nachahmen, nur ihre eigene Stimme imitieren, sagte Thomas Bernhard, das können sie nicht.

Süddeutsche
ariva.de  

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