Brüssel läßt hungern


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Eröffnet am:13.02.03 21:04von: NassieAnzahl Beiträge:1
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16074 Postings, 8194 Tage NassieBrüssel läßt hungern

 
  
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13.02.03 21:04
Mehr als 21 Milliarden Euro könnte Europa für die Dritte Welt ausgeben. Doch Misswirtschaft und Bürokratie blockieren die Hilfe

Von Petra Pinzler

Kennen Sie einen Poul Nielson? Nein? Nicht schlimm, auch bei den Lesern der französischen Zeitschrift L’Expansion rangiert der Mann auf der Hitliste der EU-Kommissare unter ferner liefen. Kommentar: „Der Unsichtbare.“ Doch gibt es durchaus einen Grund, ihn zu kennen: Poul Nielson verwaltet Geld, viel Geld. Mehr als 21 Milliarden Euro, gespeist aus dem eigenen Budget und verschiedenen Entwicklungsfonds. Eigentlich hätte dieser Betrag längst den Armen dieser Welt zugute kommen sollen. Doch offensichtlich klappt das nicht. Denn von Jahr zu Jahr wächst die Summe, welche die Europäische Union der Dritten Welt vorenthält.

Und niemand protestiert.

21 Milliarden Euro. Das ist viermal so viel, wie die deutsche Entwicklungsministerin jährlich ausgeben darf. Das ist genauso viel wie Luxemburg und fast zehnmal so viel, wie Mali im Jahr erwirtschaftet. Warum nur bunkert die Europäische Union das Geld, das für die Armen bestimmt ist?

Poul Nielson will dazu nichts sagen. Andere aber reden um so bereitwilliger, und je mehr man fragt, desto mehr Gründe finden sich: Weil die von Nielson geleitete EU-Generaldirektion Entwicklung chronisch unterbesetzt ist und mit der Arbeit nicht nachkommt, sagen die einen. Weil die Mitgliedsregierungen bei allem reinreden, vermuten andere. Weil der Europäische Rechnungshof und der Gerichtshof zu aufwändige Kontrollen verlangen. Weil viele korrupte Regierungen Afrikas gute Programme unmöglich machen und so die Auszahlung blockieren. Die Liste der Schuldigen ist lang, doch beim Namen wird immer wieder nur einer genannt: Poul Nielson. Der Kommissar sei, so Simon Stocker vom Dritte-Welt-Verband Eurostep, einfach ein „hoffnungsloser Fall“. Er habe nicht nur als Manager versagt: „Er hat alle Kämpfe verloren. Den Kampf um die Macht, die Mitstreiter und die Meinungshoheit.“

Fernab vom geschäftigen Treiben, fernab von den Kollegen, dem Parlament und den Journalisten arbeitet Kommissar Nielson mit seinen Leuten in einem schmucklosen Hochhaus. Während für ihn nur hier, am Rande eines Industriegebietes, Büros gefunden wurden, residieren alle anderen außenpolitischen Kommissare im Glaspalast am Boulevard Charlemagne. Zufall oder eher Ausdruck der Machtverhältnisse?

Sicher ist jedenfalls, dass die meisten publikumsträchtigen Aktionen der EU in Sachen Dritter Welt nicht Nielsons Unterschrift tragen. Da richtete Handelskommissar Lamy unlängst ein Sekretariat zur Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Welthandelsorganisation ein und engagiert sich für billigere Medizin für Arme. Er und sein Kollege Chris Patten erschweren den Verkauf von Blutdiamanten in Europa. „Von Nielson aber hört man nichts, nicht ein Wort der Kritik am Fischereiwahnsinn der Union und an den Agrarsubventionen, die der Dritten Welt mehr schaden, als viele Millionen Hilfsgelder wieder heilen können“, kritisiert Klaus Schilder vom deutschen Lobbyverein für die Dritte-Welt WEED. Und meint: „Der macht sich selbst überflüssig.”

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn tatsächlich leidet die Europäische Entwicklungspolitik nicht erst seit Nielson unter Bedeutungslosigkeit. Seit jeher haben Entwicklungspolitiker in Brüssel wenig zu sagen. Geboren aus der Sorge der Kolonialmächte um den Einfluss in ihren ehemaligen Kolonien, mangelte es diesem Politikfeld zudem lange an jeglicher Kohärenz. Eine undurchsichtige Finanzierung zum Teil aus Entwicklungsfonds, zum Teil aus dem Haushalt, Kompetenzwirrwarr, mangelnde Kooperation, Ineffizienz und Schlampereien in den zuständigen Abteilungen sorgten außerdem dafür, dass auch das Image der Brüssler Entwicklungspolitiker nie sonderlich gut war.

Eines hat sich mit der jetzigen Kommission dennoch verändert: der Anspruch. Die Truppe um den Italiener Romano Prodi versprach beim Amtsantritt, alles sollte anders, besser, effizienter werden. Die Reform der außen- und entwicklungspolitischen Institutionen wollten sie gar zu ihrem „Flaggschiff“ machen. „Wir haben die Verpflichtung, bessere Ergebnisse zu erzielen“, verkündete daher auch Nielson bei seiner ersten Anhörung im Parlament. Und so begann eine Reform.

Das war vor dreieinhalb Jahren. „Viel habe ich noch nicht von der Veränderung gespürt. Von unserer Hilfe kommt immer noch viel zu wenig unten bei den Armen an“, kommentiert heute die flämische Europaabgeordnete Nelly Maas, die sich im Entwicklungsausschuss engagiert. Ein hoher Beamter, der noch für Kommissar Nielson arbeitet und daher seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, formuliert das noch härter: „Nichts hat sich verbessert, im Gegenteil.“ Zwar habe man die Arbeit der Kommission dezentralisiert, statt in ihren bequemen Brüsseler Büros sollen die EU-Mitarbeiter heute vor Ort, in der Dritten Welt, mit den jeweiligen Regierungen über Programme und Projekte entscheiden. Aber das bleibe oft schöne Theorie. Nach wie vor mangele es an Personal, Projekten und Programmen. Immer noch verlangsame unsinnige Bürokratie die Arbeit und erhöhe den Frust unter den Mitarbeitern. Ein Missstand sei zudem eher noch schlimmer geworden: die Grabenkämpfe innerhalb der Kommission.

Der Grund ist banal. In der Entwicklungspolitik potenziert sich das Zuständigkeitsdurcheinander der EU – und das ist normalerweise schon groß genug. „Die Suche nach einem Verantwortlichen gleicht nicht selten einem Spaziergang durch ein Labyrinth“, stöhnt ein Mitarbeiter der Weltbank, der häufiger mit der EU zusammenarbeiten muss. Statt nämlich die Kompetenzen für die Dritte Welt in einer Behörde zu konzentrieren, hat die Prodi-Kommission sie nach wie vor auf mehrere verteilt: So ist beispielsweise bei Lateinamerika nicht die Generaldirektion Entwicklung, sondern die Abteilung Außenpolitik federführend. Projekte wickelt wiederum eine Behörde namens Europaid ab. Und die Direktionen für Handel oder für Erweiterung mischen auch immer mal wieder mit.

Sinn hat das keinen, aber Folgen: Rangeleien, doppelte Arbeit und gegenseitige Lähmung. Die Internet-Seite der Kommission belegt das eindrücklich – schon beim Versuch, einfach nur die Gesamtausgaben der EU für die Armen zu finden, scheitert man eindrucksvoll. Fast ein Viertel der Mitarbeiter sei allein durch diese unwirksame Organisationsstruktur gebunden, schätzt ein Beamter und hofft, dass die Verantwortlichen endlich wach werden. Doch die scheinen der Reformen schon wieder müde, verschleppen sie doch schon seit einem halben Jahr eine einst versprochene Untersuchung über die Leistungsfähigkeit ihrer Organisation. Dem Präsidenten Romano Prodi und dem Kommissar für Außenpolitik Chris Patten mangelt es an Interesse, die meisten anderen geht das Thema eh nichts an. Und Nielson? Der schweigt mal wieder.

„Das ist eine kafkaeske Veranstaltung“, sagt Hans-Joachim Preuss, Chef der Deutschen Welthungerhilfe. In vielen europäischen Hilfswerken und Dritte-Welt-Gruppen ist der Unmut riesig, aber die meisten trauen sich nicht, offen zu reden. Durch allzu offene Kritik könnte ja eine potenziellen Geldquellen versiegen. Preuss aber traut sich, und so sagt er: In seinem Hilfswerk, das seit langem mit der EU zusammenarbeitet, gebe es viele Projekte, in denen er sofort mehr Geld ausgeben könnte. Doch er kennt auch die bürokratische Tretmühle, in die er sich mit Vorschlägen begeben muss. „Jeden Antrag müssen wir siebenmal kopieren – und wehe, es fehlt eine Seite oder wir fragen nach ein paar Monaten telefonisch nach. Dann fliegen wir wegen Formfehlern oder versuchter Beeinflussung aus der Geldvergabe sofort raus“, sagt Preuss. Er hat inzwischen gelernt: Wer von der Kommission etwas bekommen will, muss vor allem warten können. Allein von der Genehmigung eines Projektes bis zum Start braucht die Behörde durchschnittlich fast vier Jahre – beispielsweise in Nicaragua. Dort hatte die EU den Opfern des Hurrikans Mitch, der 1998 große Landstriche verwüstete, großzügige Hilfe versprochen. Als der Europaabgeordnete Wolfgang Kreissl-Dörfler, früher selbst Entwicklungshelfer, im vergangenen Jahr dann nach Mittelamerika reiste, traute er seinen Augen kaum: „Da standen nur die Rohbauten.“

Kurz vor Weihnachten 2002 schrillten schließlich in verschiedenen Hauptstädten der EU die Alarmglocken. Ein internes Papier des deutschen Entwicklungsministeriums fasst den Grund so zusammen: Es sei ein weiterer „Anstieg der so genannten Auszahlungspipeline“ festzustellen, bis Ende September 2002 sei gerade mal die Hälfte aller geplanten Mittel ausgegeben. Im Klartext: Sollten sich die Zahlen nicht schnell ändern, würde Europa von seinem Entwicklungsbudget 2002 weniger denn je ausgeben. Das aber wäre eine kaum zu überbietende Peinlichkeit: Denn mit viel Trara trommelte die EU-Kommission auf dem Weltgipfel in Johannesburg im vergangenen September für eine Erhöhung der Entwicklungshilfe. Da wirkt es dann schon merkwürdig, wenn man das eigene Geld gar nicht ausgeben kann.

Der Ausweg? Kommissar Nielson präsentierte den Regierungen eine ganze Reihe „kurzfristiger“ Maßnahmen. So soll das Geld beispielsweise schneller abfließen, indem stärker „multilaterale Programme“, allgemein „größere Programme“ oder gleich ganze Teile des Budgets armer Länder unterstützt werden. Glaubt man seiner Behörde, dann entpuppen sich diese Ideen als Wunderwaffe. Denn schon Mitte Januar beschwichtigte der Sprecher von Nielson: Alles sei im grünen Bereich, die geplante Summe für 2002 zu 90 Prozent ausgegeben.

Die entscheidenden Fragen aber lässt auch er unbeantwortet – Nielson schweigt sowieso: Wieso müssen Steuergelder, die Europäer für eine gemeinsame Politik in der Dritten Welt zur Seite legen, schließlich an multilaterale Programme überwiesen werden? Warum sind plötzlich große Projekte und pauschale Überweisungen die Lösung für vorher scheinbar unlösbare Probleme, warum klappt die Zusammenarbeit mit renommierten, nationalen Hilfsorganisationen immer noch nicht besser? Dort klagt man seit längerem über mangelnden Kooperationswillen Brüssels. Dabei weiß spätestens seit einem Jahrzehnt fast jeder, der sich mit Entwicklungspolitik beschäftigt, dass private und kirchliche Organisationen die Hilfe schnell und flexibel zu den Bedürftigsten fließen lassen.

Und schließlich zwei letzte Fragen an Herrn Nielson: Warum gibt die Kommission fast die Hälfte ihrer Mittel für die Armen erst in den letzten Wochen des Jahres aus? Hat man nichts gelernt aus dem internen Bericht der hauseigenen Rechnungsprüfer? Die warnten erst vor wenigen Monaten wieder mit deutlichen Worten: Wenn sich nichts an dieser Praxis ändere, werde „unsere angebotsorientierte Hilfskultur, die zulasten der Glaubwürdigkeit und entgegen den Erwartungen der Steuerzahler immer mal wieder mit vollen Händen Geld rausschmeißt, einfach weiter bestehen“.

Die britische Entwicklungsministerin Clair Short, bekannt für ihre Freimütigkeit, kam schon im vergangenen Jahr zu einem radikalen Fazit. Die Europäische Entwicklungspolitik sei „eine Schande“, sagte sie und drohte: Wenn sich nicht bald etwa ändere, werde man „die Beiträge streichen“ und sie wieder selbst ausgeben. Auch Hans-Joachim Preuss von der Welthungerhilfe denkt inzwischen in die gleiche Richtung: Wenn die Kommission weiterhin unfähig sei, Mittel seriös auszugeben, dann solle sie sie doch an die nationalen Regierungen zurückgeben.

Noch sind solche Forderungen nicht mehrheitsfähig – wohl auch, weil die nationalen Regierungen selbst im Glashaus sitzen: Letztlich tragen sie Mitschuld an der Misere. So haben sie der Kommission immer wieder Personal verweigert – ihre eigenen Entwicklungsministerien können jede Million Hilfsgeld mit vier- bis achtmal so vielen Leuten verwalten wie die Brüsseler Behörde. Sie verzögerten in der Vergangenheit immer wieder Reformen; Belgien verschleppt beispielsweise seit zweieinhalb Jahren die Ratifizierung des für Afrika so wichtigen Cotonu-Handelsabkommens.

Am schwersten aber wiegt: Die Regierungen verhindern bislang, was sie längst hundertmal versprochen haben – eine echte gemeinsame europäische Politik in der Dritten Welt, koordiniert von der EU. In vielen armen Ländern planen Deutschland und Frankreich, die EU, die Weltbank und all die privaten Hilfswerke immer noch nahezu autistisch ihre eigenen Projekte – ohne sich um die anderen zu kümmern. Manch afrikanischer Minister verbringt daher seine wertvolle Zeit vornehmlich mit dem Empfang ausländischer Geber. Eine Renationalisierung der Entwicklungsgelder würde diesen Unsinn nur verstärken.

Vielleicht würden auch Bessere als Nielson angesichts dieser Misere scheitern. Eines allerdings müsste sowohl ihm als auch allen anderen Beteiligten eigentlich klar sein: Wüssten die Armen dieser Welt von den 21 Milliarden und hätten sie eine Stimme – dann wäre keiner von ihnen noch im Amt.
 

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